Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
konnten.« Sie holte einen Beutel aus Wildleder unter der Pritsche hervor. »Ich wollte nicht, dass den Sachen etwas passiert.«
Raisa wog den Beutel in der Hand, löste dann das Band und schüttete den Inhalt auf Han’s Decke. Neben dem Talisman waren tatsächlich zwei Amulette darin: das Schlangenstabamulett, an das sie sich erinnerte, und eines, das sie nicht kannte – ein aus Edelstein gefertigter Bogenschütze.
»Den Einsamen Jäger hat Mutter Elena für ihn gemacht«, sagte Willo. »Das andere habe ich noch nie gesehen.«
»In Odenford hat er das Schlangenstabamulett getragen«, erzählte Raisa. Sie erinnerte sich, wie es auf ihre Berührung reagiert hatte. »Vielleicht hat einer der Master es ihm gegeben.« Sie biss sich auf die Lippe und starrte es an. »Ich kenne mich wirklich nicht mit so etwas aus«, gestand sie. »Aber ich glaube, es könnte ihm helfen, es zu tragen. Es könnte seine Magie daran hindern, aus ihm herauszusickern.«
Willo warf einen Blick in den Gemeinschaftsraum, dann sah sie Raisa an, legte einen Finger an die Lippen und nickte.
Raisa hob das Schlangenstabamulett an der Kette hoch, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass sie es nicht direkt berührte. Sie und Willo schoben Han’s Decken zurück, und Raisa knöpfte vorsichtig das schwere Wollhemd auf, dass er trug.
Sie öffnete den Verschluss der Kette und ließ das Amulett auf seine nackte Brust sinken. Es fing sofort an zu glühen, wie zur Begrüßung.
Was ist, wenn es mehr Schaden anrichtet als Nutzen bringt?, dachte Raisa. Amulette zogen Macht ab, oder nicht? Aber sie konnten auch Macht sammeln und sie den Magiern zur Verfügung stellen.
Wie viel von seiner Macht war wohl übrig geblieben, nachdem er versucht hatte, sie zu heilen?
Sie schob seine feuchten Haare aus dem Weg und machte den Verschluss zu, ehe sie die Kette unter dem Kragen seines Hemdes verschwinden ließ. Dann nahm sie seine Hand, steckte sie unter das lockere Hemd und schloss seine Finger um das Amulett. Danach zog sie die Decken wieder bis zu seinem Kinn hoch.
Noch immer auf den Knien sah Raisa erneut zu Willo hoch. »Oh, Willo«, flüsterte sie und strich Han über die Wange, die jetzt stoppelig war und den Schatten eines rötlichen Bartes zeigte. »Das alles ist mein Fehler.«
Die Heilerin lächelte. In ihren dunklen Augen standen Tränen. »Tatsächlich? Und ich dachte, es wäre alles mein Fehler.«
»Ich erinnere mich … an einen Teil von dem, was er getan hat, um mich zu heilen«, fuhr Raisa fort. »Ich weiß, dass ich gegen ihn angekämpft habe. Ich trage so viele Geheimnisse in mir. Ich habe versucht, ihn außen vor zu lassen. Er hat mich nicht gerettet, weil ich die Erbin des Grauwolf-Geschlechtes bin. Er …« Ihre Stimme versiegte.
Willo legte ihr eine Hand auf die Schulter, und Macht tröpfelte in sie hinein. »Schon gut, Hoheit«, sagte sie. »Ihr müsst mir nichts erklären.«
»Wenn Ihr … wenn Ihr glaubt, dass ich irgendwie helfen kann«, flüsterte Raisa, »würde ich gern hier bei ihm sitzen oder den Fächer betätigen oder …«
»Danke, Eure Hoheit, aber vielleicht ist es besser, wenn Ihr Euch noch ein oder zwei Tage ausruht, bevor Ihr die Rolle eines Heilerlehrlings übernehmt.« Willo nahm Raisas Arm und half ihr auf die Beine. »Jetzt wollen wir Euch erstmal ins Bett zurückbringen.«
Noch während sie zum Vorhang schlurften, hörten sie Stimmen im angrenzenden Raum. Sie schlüpften hindurch – und fanden sich zwei Neuankömmlingen gegenüber.
Raisas Vater Averill und Amon Byrne.
Amon! Raisas Herz machte vor Erleichterung einen Satz.
Amons Blick heftete sich sofort auf Raisa, wanderte von ihrem zerzausten Schopf über ihr knielanges Gewand nach unten bis zu den lächerlich dicken Wollsocken. Er schloss die Augen und hob das Gesicht gen Himmel, als würde er ein Dankesgebet dorthin schicken. Dann sah er sie wieder an, als wollte er sichergehen, dass sie ihm nicht entschwand.
Amon sah schrecklich aus. Als käme er geradewegs aus der Hölle, mit den tiefen Spuren der Erinnerung auf seinen Zügen. Er wirkte um Jahre gealtert und doch furchtbar jung. Die grauen Augen waren von Schmerz und Kummer verdüstert, und sein stoppeliges Gesicht verriet, wie müde er sein musste.
»Süße Herrin der Barmherzigkeit«, flüsterte Raisa. »Dank sei der Schöpferin, du bist in Sicherheit.«
Sie hätte ihn am liebsten umarmt und ihm gesagt, wie leid ihr alles tat und wie sein Vater ihr das Leben gerettet hatte und dass nichts davon
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