Der Wolfsthron: Roman (German Edition)
zog die Knie unter den Decken hoch und schlang seine Arme darum.
Er ist noch so jung, dachte Raisa. Er ist erst – wie alt – siebzehn? Wieso muss er solche Entscheidungen treffen? Wieso muss ich das tun?
Sie dachte an die Zeit vor kaum einem Jahr zurück, als ihr größtes Problem darin bestanden hatte, ob sie zur Namenstagsfeier der Bayars Schwarz oder Weiß oder Purpur tragen sollte.
Aber ich bin dazu geboren worden, dachte sie weiter, während er sein Leben dafür aufs Spiel setzt.
»Wo wird die Krönung stattfinden?«, fragte Han.
»Traditionell im Kathedralen-Tempel«, erklärte Averill. »Es wird am Besten sein, wenn wir bis dahin geheim halten können, dass Raisa sich hier aufhält.«
»Ich werde zur Gedenkfeier und zur Beerdigung meiner Mutter gehen«, verkündete Raisa.
Han’s Blick streifte sie kurz, dann sah er wieder zur Seite.
Averill verzog das Gesicht. »Meine Dornenrose, ich weiß, dass du deine Mutter ehren willst«, begann er. »Aber es ist einfach zu gefährlich. Ich bin sicher, dass sie es versteht, wenn du …«
»Vater, es war mir nicht möglich, ihre Leiche zu baden und anzukleiden«, sagte Raisa voller Bitterkeit. »Oder die Totenwache im Tempel zu halten. Ich habe fest vor, an ihrer Seite zu sein, wenn sie unsere Ahnen, die Grauwolf-Königinnen, begrüßt. Sie wird zu meinem Wohl mit ihnen sprechen und mich als Nachfolgerin vorstellen. All das gehört zum Ritual. Es gehört zu dem Prozess, der mich zur Königin macht.«
Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie wischte sie mit dem Handrücken weg. Während des Gesprächs mit Han hatte sie sie noch zurückhalten können, aber jetzt wurde sie von Kummer und Bedauern überwältigt.
»Es gibt so vieles, das ich ihr sagen möchte – von dem ich wünschte, dass ich es ihr vorher gesagt hätte«, erklärte sie. »Wir sind im Streit auseinandergegangen, und jetzt wird die Auseinandersetzung nie mehr beigelegt werden können.« Sie ballte die Hände zu Fäusten und richtete sich kerzengerade auf. »Du würdest auch dort sein wollen, Vater, wenn du an meiner Stelle wärst. Der gesamte Magierrat könnte dich nicht davon abhalten. Und ich werde nicht zulassen, dass sie den Flammen übergeben wird, ohne dass ich dabei bin.«
Raisas Vater und ihre Großmutter sahen einander an; sie schienen ratlos zu sein, wie sie mit dem Widerstand der zukünftigen Königin umgehen sollten.
»Wieso warten wir nicht einfach ab, bis wir genauer wissen, was die Amulettschwinger dazu beitragen können, und treffen erst dann unsere endgültige Entscheidung?«, fragte Elena. Sie sah Han an. »Nightwalker kehrt heute Nachmittag zurück. Wir werden uns heute nach dem Abendessen zusammensetzen und darüber entscheiden, ob …«
»Dann wäre es gut, wenn ihr jetzt gehen würdet, damit dieser Amulettschwinger hier sich ausruhen kann«, unterbrach Willo sie und nickte zu Han hinüber. »Ansonsten könnte es sein, dass ihr dieses Problem ganz allein lösen müsst.«
»Wann ist die Beerdigung?«, fragte Han plötzlich.
»Die Beerdigungsfeier ist für Sonntag angesetzt«, sagte Averill. »Also in vier Tagen.«
»Ich reite heute nach Fellsmarch«, meldete sich Amon zu Wort. »Ich bringe die Asche meines Vaters zurück in die Hauptstadt. Ich werde auch mit meinen Kadetten sprechen und neue Informationen sammeln. Wenn ihr bis übermorgen wartet, werde ich Neuigkeiten haben.«
Raisa sah ihn überrascht an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell wieder verschwinden wollte. »Ich würde auch gern an der Gedenkfeier von Hauptmann Byrne teilnehmen«, sagte sie.
»Vielleicht könnt Ihr das tatsächlich«, erwiderte Amon. »Lasst mir bitte bis übermorgen Zeit.«
»Wie werdet Ihr den Tod Eures Vaters erklären?«, fragte Averill ihn. Sein Gesicht war voller Mitgefühl. Edon Byrne und er waren Freunde gewesen, auch wenn sie beide Marianna geliebt hatten. Beziehungen am Hof waren kompliziert, aber der Händler Averill Demonai war ein Meister im Umgang mit Komplikationen.
»Er und sein Tripel sind anscheinend auf dem Weg zurück zur Hauptstadt von einer Gruppe von Söldnern aus dem Süden angegriffen worden«, erzählte Amon. »Sie sind alle getötet worden.«
»Ich reite mit Euch zur Stadt«, sagte Averill. »Der Regentschaftsrat trifft sich morgen früh, und ich werde dort sein müssen, um Euch im Zweifelsfall unterstützen zu können.«
Elena nickte. »Danke, Korporal Byrne. Passt auf euch auf, alle beide. Wir treffen uns dann also übermorgen wieder.«
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