Der Wolfsthron: Roman
worden, um die Grenze zwischen Arden und Tamron zu verstärken, während Gerards einziger noch lebender Bruder, König Geoff, das Ende der Belagerung von Tamron Court abwartete. In dem Land herrschte eine unheimliche Ruhe, als würde das ganze Reich den Atem anhalten.
Da sie im Dunkeln nicht querfeldein reiten konnten, entschieden sie sich, die Straße nach Delphi zu nehmen, die unterhalb der Berge durch das nördliche Arden führte. Von dort aus wollten sie dann über den Marisa-Pines-Pass die unteren Spirits überqueren.
Raisa wusste, dass sie alles daransetzten, schnell voranzukommen. Es würde ihr nichts nützen, diese lange, mühsame und gefährliche Reise durch Arden und Tamron zu bewältigen, nur um dann zu Hause der Tatsache ins Auge zu sehen, dass ihre Schwester Mellony bereits an ihrer Stelle zur Thronerbin ernannt worden war.
Abgesehen davon wollte Hauptmann Byrne bestimmt so wenig Zeit wie möglich mit einer verärgerten, launischen und niedergeschlagenen Prinzessin verbringen. Und ganz gewiss machte er sich auch Sorgen um Königin Marianna, zu deren Schutz er sich mit einem Blutschwur verpflichtet hatte.
Raisa machte sich ebenfalls Sorgen um ihre Mutter. So sehr, dass diese Sorgen ihren Körper einzuschnüren schienen wie ein allzu enges Korsett.
Während der langen Tage auf dem Pferderücken hatte sie viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Raisas Gedanken reisten schneller als die Pferde – zurück nach Fellsmarch, zu dem Märchenschloss auf der Insel in der Drynne und zu den privaten Gemächern ihrer Mutter, in denen zweifellos Pläne geschmiedet wurden, um Raisas Thronanspruch zu vereiteln.
Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild ihrer Mutter und Lord Bayars auf – wie sie über irgendeinem fragwürdigen Dokument die Köpfe zusammensteckten, Mariannas Haar wie helles, reinstes Blattgold, das des Hohemagiers silbern und schwarz wie Holzasche.
Bei Hofe waren Raisa und ihre Mutter wie Feuer und Eis gewesen, darauf aus, das Wesen der jeweils anderen zu ändern. Jetzt hoffte Raisa, dass sie in der Lage sein würden, einander zu ergänzen, die Stärke der jeweils anderen zu erkennen und sie zu vereinen wie zu einer Stahllegierung – sofern ihre Mutter ihnen beiden eine Chance gab.
Mellony war dazu nicht geeignet: Sie war erst dreizehn, und Mellony und Marianna waren sich einfach zu ähnlich.
»Mutter, bitte«, flüsterte Raisa. »Bitte warte auf mich.«
In ihren schwärzesten Stunden wusste Raisa, dass alles ihr Fehler war – die Krise zu Hause, die Invasion von Tamron und das, was voraussichtlich mit Amon Byrne und den anderen Kadetten passieren würde, wenn Gerard Montaigne die Mauern von Tamron Court niederriss. Wäre sie nicht gewesen, könnte Edon Byrne zu Hause sein, wo er hingehörte, und sich um die Königin kümmern, und Amon würde als Befehlshaber seiner Klasse in Odenford weilen.
Auch Han Alister hatte sie verloren; die gerade erst erblühende Romanze war mitsamt ihren Wurzeln ausgerissen worden. Dabei war er der Einzige, mit dem sie nichts anderes verband als das, was alle jungen Liebenden überall auf der Welt miteinander verband. Obwohl es keine gemeinsame Zukunft für sie gab, hatte er in ihrem Herzen ein riesiges Loch hinterlassen.
Es kam ihr so vor, als würde sich schließlich alles, was sie berührte, alles, was ihr etwas bedeutete, in Sand verwandeln, der ihr durch die Finger rann.
In ihrer Mutlosigkeit verschloss sie die Ohren vor der Stimme der Vernunft, die ihr sagte: Du hättest dich nie in Han Alister verlieben können, wenn du die Fells nicht verlassen hättest. Du hättest Hallie oder Talia oder Pearlie nie kennengelernt. Oder erfahren, was es bedeutet, ein Soldat zu sein. Wenn du überlebst, wirst du genau aus diesen Gründen eine bessere Königin werden.
Stattdessen hegte sie ihren Ärger, nährte und verhätschelte ihn, denn er war die beste Alternative zu tiefster Verzweiflung.
Sie musste hoffen, dass Gerard Montaigne noch im Westen beschäftigt war, wo er Tamron Court belagerte. Solange sich die Stadt nicht ergeben hatte, konnte der Prinz von Arden nicht wissen, dass sie entkommen war. Und solange die Stadt Widerstand leistete, würde Amon am Leben sein.
Ein paar Figuren ihres Gedankenspiels wurden immer noch vermisst – Micah Bayar und seine Schwester Fiona zum Beispiel. Zuletzt hatte sie die beiden an der Grenze zwischen Tamron und Arden gesehen, als Tamrons Brigaden gegen Ardens sehr viel größere Armee gekämpft hatten. Hatten sie auch entkommen
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