Der Wolfsthron: Roman
, sichtbar sein musste. Irgendwie musste sie es schaffen, nach Hause zu kommen, um sich mit Königin Marianna zu versöhnen und sich ihren Widersachern entgegenzustellen, die ihr den Grauwolf-Thron abspenstig machen wollten.
Der Name Rebecca Morley bot ihr keinen Schutz mehr. Zu viele ihrer Feinde kannten ihn bereits. Deshalb nannte sie sich jetzt Brianna Trailwalker und ehrte damit zugleich ihre Clan-Herkunft. Passend dazu hatte sie sich die Geschichte einer jungen Händlerin ausgedacht, die von ihrer ersten Reise in den Süden auf dem Rückweg war und durch den Aufruhr an der Grenze aufgehalten wurde.
Nachdem sie jetzt schon einen Monat in Fetterford festsaß, kannte sie die Stammgäste des Purpurreihers – hauptsächlich Lotsen von der Flussfähre, Eisenschmiede, Hufschmiede und Stallmeister, die den Reisenden ihre Dienste anboten. Allerdings waren die Einheimischen in der Minderheit. Die Stadt brodelte vom Hin und Her der kriegerischen Auseinandersetzungen.
Raisa ließ ihren Blick auf der Suche nach Fremden durch den Raum schweifen. Zwei Frauen aus Tamron saßen schon den zweiten Abend an einem Ecktisch. Die eine war jung und hübsch, die andere stämmig und mittleren Alters; beide waren für den Purpurreiher zu gut gekleidet. Vermutlich handelte es sich um eine Adelige, die mit ihrer Gouvernante floh, um den Kämpfen im Süden zu entgehen.
Drei schlanke junge Männer in ardenischer Zivilkleidung spielten an einem Tisch bei der Tür Karten. Ursprünglich waren sie zu viert hereingekommen, aber vor einer Weile war einer von ihnen wieder gegangen. Raisa hatte schon mehrmals den Blick von einem von ihnen aufgefangen, wenn sie hochsah. Sie spürte, wie ihr ein besorgtes Prickeln über den Rücken wanderte. Waren es Diebe oder Attentäter? Oder einfach nur junge Männer, die sich eben für ein junges Mädchen interessierten?
Aber es gab keine einfachen Antworten mehr.
Bei den Stammgästen handelte es sich überwiegend um Soldaten. In Fetterford wimmelte es nur so von ihnen. Einige trugen den Roten Falken von Arden, andere den Reiher von Tamron und wieder andere gar kein Wappen – was bedeutete, dass sie entweder Söldner waren oder Deserteure aus König Markus’ Armee.
Jeder von ihnen konnte hinter Raisa her sein. Ein Monat war vergangen, seit sie Gerard Montaigne entkommen war, dem ehrgeizigen jungen Prinzen von Arden. Gerard hoffte, auf mindestens drei der Sieben Reiche Anspruch erheben zu können, indem er seinen Bruder Geoff, den gegenwärtigen ardenischen König, stürzte, ins – ehemals mit ihm verbündete – Nachbarland Tamron einmarschierte und schließlich Raisa ana ’ Marianna heiratete, die Erbin des Grauwolf-Throns der Fells.
Täglich rechnete man in Fetterford mit der Nachricht, dass die Hauptstadt Tamron Court an Gerard gefallen war. Der Prinz von Arden belagerte sie nun schon seit Wochen.
Eigentlich hatte Raisa vorgehabt, die militärischen Oberen von Fetterford darum zu bitten, einen Boten zum Garnisonshaus an der Westmauer der Fells zu schicken, von wo aus eine Nachricht zu ihrem Vater, Averill Lord Demonai, hätte gebracht werden können. Oder zu Edon Byrne, dem Hauptmann der Wache der Königin – den vielleicht einzigen beiden Menschen in den Fells, denen sie trauen konnte.
Als sie jedoch in der Grenzstadt angekommen war, hatte sie gar keine Oberen vorgefunden. Das Garnisonshaus von Fetterford war verlassen, die Soldaten waren geflohen. Manche waren vielleicht nach Süden gegangen, um die belagerte Hauptstadt zu unterstützen. Aber die meisten hatten sich vermutlich unter die Bevölkerung gemischt und warteten den Ausgang des Krieges ab.
Raisa konnte nur hoffen, dass ihr bester Freund, Korporal Amon Byrne, ihr mit seinen Grauwölfen nach Norden gefolgt war und sie hier in Fetterford finden würde. Dann könnte sie im Schutz dieser Gruppe weiterreisen, wie schon im Herbst, als sie zur Akademie von Odenford unterwegs gewesen war.
Da Amon als zukünftiger Hauptmann ihrer Wache auf magische Weise mit ihr verbunden war, hätte er eigentlich ahnen müssen, wo sie sich befand. Trotzdem vergingen die Wochen, ohne dass er auftauchte. Wenn er sich tatsächlich auf den Weg zu ihr gemacht hätte, hätte er schon längst eintreffen müssen.
Raisa hatte noch einen anderen Plan gehabt: sich mit einem Clan-Händler zusammenzutun, der ebenfalls auf dem Weg nach Norden war. Sie war ein Halbblut; mit ihrer karamellbraunen Haut und den dichten dunklen Haaren konnte sie sich als Clan-Mitglied
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