Der Wolfsthron: Roman
einmal durchleben. »Kannst du dir das vorstellen, Alister? Kannst du dir vorstellen, wie es für ein Geistwesen wie mich ist, die Welt wieder mit allen Sinnen zu erfahren – zu sehen und zu berühren, zu riechen und zu schmecken und zu hören?«
»Dann wäre ich sicher nicht in die Bibliothek gegangen, das kann ich dir sagen«, entgegnete Han trocken.
Crow lachte. »Du gefällst mir, Alister. Aber all das hier wäre einfacher gewesen, wenn du unausstehlich wärst. Und dumm. Du wärst dann deutlich lenkbarer.«
»Lenkbar zu sein bringt einen nirgendwohin«, sagte Han. Er fühlte sich wie ein Junge vom Land auf einem riesigen Stadtmarkt. Crow hatte ihm so viel vor die Füße geworfen, dass er die Einzelheiten im Augenblick gar nicht richtig erfassen konnte. Fragen ratterten durch sein Hirn.
»Also schön, ich war ungewöhnlich offen dir gegenüber«, sagte Crow und unterbrach Han’s Gedanken. »Dafür solltest du mir jetzt erzählen, warum du zurückgekommen bist. Darf ich daraus schließen, dass du immer noch etwas von mir willst?«
»Ich bin auf dem Weg zurück zu den Fells, um gegen die Bayars und vielleicht den gesamten Magierrat vorzugehen«, erklärte Han.
»Ganz allein? Selbst für jemanden wie dich scheint mir das ein ziemlich ehrgeiziges Unterfangen zu sein«, stellte Crow fest. »Was genau willst du erreichen? Abgesehen davon, dass du dabei bist, dein Leben wegzuwerfen.«
Han wusste, dass er dem zynischen Crow einen Grund geben musste, den er verstand. Einen Grund, der Crow wenigstens für den Augenblick zu seinem Verbündeten machte.
»Die Bayars wollen Micah auf den Grauwolf-Thron setzen«, sagte Han. »Und das werde ich nicht zulassen.«
»Hmmm. Wenn die Bayars eine Eigenschaft haben, dann ist es sicherlich Beharrlichkeit«, murmelte Crow. »Zu schade, dass der junge Bayar nicht in Aediion gestorben ist.« Er machte eine Pause und blinzelte Han mit zusammengekniffenen Augen an, um festzustellen, ob sein Seitenhieb gesessen hatte. »Worum geht es bei dir und den Bayars? Was haben sie dir getan?«
»Sie haben vor einem Jahr meine Mutter und meine Schwester umgebracht«, sagte Han. »Die einzige Familie, die ich hatte. Und vor Kurzem war da ein Mädchen, Rebecca. Meine … äh … Lehrerin. Sie ist verschwunden, und die Bayars sind dafür verantwortlich. Ich glaube, sie wollten mir eins auswischen.«
Crow sah Han in die Augen. »Armer Kerl«, sagte er kopfschüttelnd. »Du hast dich in sie verliebt, ja?«
Verflucht, wieso ist mein Aediion-Gesicht so leicht zu deuten?, dachte Han und schaute finster drein.
Crow lachte. »Lass mich dir einen Rat geben – zieh nicht wegen eines Mädchens in den Krieg. Sie ist es nicht wert. Die Liebe macht aus weisen Männern Narren.«
»Ich bin nicht hier, weil ich irgendeinen Rat brauche«, blaffte Han. »Ich bin hier, weil ich magische Macht benötige. Blitzkraft für mein Amulett. Meine Chancen stehen ziemlich schlecht. Selbst dann, wenn du mir hilfst.«
»Nach alldem, was letztes Mal passiert ist, kommst du hierher, um mich um Hilfe zu bitten?« Crow wölbte eine Braue. »Ich hatte dich für klüger gehalten.«
»Das ganze Leben ist ein Risiko«, sagte Han. »Klar, es besteht die Möglichkeit, dass du mich erneut verrätst, aber jetzt bin ich wachsam, und ich glaube nicht, dass du es schaffen wirst, mir echten Schaden zuzufügen. Während die Gefahr, die von den Bayars ausgeht, real und unmittelbar ist.«
Crow stand erneut breitbeinig da, neigte den Kopf etwas und sah Han mit einem Blick an, als hätte er ihn noch nie zuvor richtig betrachtet. »Oh je, Alister, das sind große Worte. Diese junge Frau, deine Lehrerin, die hat dir aber einen richtigen Schliff verpasst, was?«
Rebecca. Han’s Magen verkrampfte sich. Und als Gegenleistung hatte er ihr wahrscheinlich den Tod gebracht.
»Unter dem Schliff bin ich immer noch der Gleiche«, sagte Han. »Ich kriege, was ich brauche, und niemand wird sich mir in den Weg stellen. Auch du nicht. Wir tun das hier entweder auf meine Weise oder gar nicht. Mach mit oder lass es bleiben.«
»Na schön«, sagte Crow. »Tun wir es auf deine Weise. Aber ich werde dir Ratschläge geben, und du kannst dir überlegen, ob du sie annehmen oder ignorieren willst.«
»Das ist nur fair«, fand Han. Da flackerten erneut die Fragen in seinem Kopf auf. »Aber zuerst muss ich wissen – was ist zwischen dir und den Bayars passiert, und wann ist es passiert? Wo bist du in der Zwischenzeit gewesen? Und wie kommt es, dass du
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