Der Wolfsthron: Roman
Wenn sie erst Königin war, wäre dies die erste Tür, die für immer verschlossen blieb.
»Das hier war übrigens der Ort, an dem Königin Hanalea sich mit Alger Waterlow getroffen hat«, sagte Han und riss sie aus ihren Gedanken.
»Was?«
»Sie sind öfter hierhergekommen und haben sich in diesem Wintergarten geliebt«, sagte Han und streckte seine langen Beine aus. »Bevor sie nach Gray Lady geflüchtet sind. Das war wirklich eine Königin, die keine Angst hatte, ein Risiko einzugehen.«
Stimmt, dachte Raisa. Hanalea ist ein Risiko eingegangen, und was hat es ihr gebracht?
»Wer hat dir das erzählt?«, fragte sie. »Diese Geschichte kenne ich nicht.« Sie zitterte wieder, als würden Geister mit ihren kalten Fingern über ihre Schultern streichen.
»Manche Geschichten werden heutzutage nicht mehr erzählt«, sagte Han und ließ zu, dass eine leichte Wärme zwischen ihnen hin und her strömte. Er strich ihr über die Haare und berührte ihren Nacken mit seinen Fingern, sodass sie eine Gänsehaut bekam.
Das macht es nicht gerade einfacher, dachte Raisa.
Nach einer langen Pause fügte er hinzu: »Du musst das nicht tun, das weißt du.«
»Was?« Raisa wandte ihm das Gesicht zu und sah ihn an.
»Du musst das nicht durchziehen. Du musst keine Königin sein. Du kannst sein, wer immer du sein willst.« Diesmal war sein Gesicht todernst.
»Was willst du damit sagen?«, fragte Raisa und wischte sich über die Nase. »Ich habe keine Wahl.«
»Man hat immer die Wahl«, erwiderte Han. »Nimm mich zum Beispiel. Ich kann alles sein, wenn ich es wirklich will. Wenn ich bereit bin, alles zu tun, das dafür nötig ist.«
»Tatsächlich.« Raisa wölbte eine Braue. Es klang so einfach, so wie er es sagte. »Und was passiert mit den Fells, wenn ich abhaue?«
»Niemand ist unersetzbar.«
»Wie lange würde ich wohl leben, wenn ich auf die Krone verzichte?«, fragte Raisa. »Wer auch immer an meiner Stelle die Macht erhält, selbst wenn es Mellony wäre – ich wäre ein ständiger Stachel, ein möglicher Ausgangspunkt für eine Rebellion – noch mehr Zielscheibe als jetzt schon.«
»Du musst nicht hierbleiben. Sie heißen nicht umsonst so – die Sieben Reiche .« Er streckte seine Hand aus und legte sie auf ihre, als wollte er noch mehr Berührungspunkte mit ihr. »Und es gibt immer noch Carthis, wenn du noch weiter wegwillst.«
»Was bei allen Gluten sollte ich in Carthis?«, murrte Raisa. »Wieso sollte ich dorthin wollen?«
Han lachte leise. »Ich bin fest davon überzeugt, dass du auf deinen Füßen landen würdest, Hoheit. Wahrscheinlich würdest du in null Komma nichts ganz Carthis leiten.«
»Ich weiß nichts über Carthis«, sagte Raisa.
Er holte tief Luft und wagte den Vorstoß. »Ich könnte dich begleiten. Ich würde dir helfen – was immer du auch tun willst.«
Raisa blickte überrascht auf. Han’s blaue Augen begegneten ihren – er sah sie eindringlich an, direkt und ohne jeglichen Spott.
Das Angebot hing seltsam zwischen ihnen. Was meinte er damit? Was schlug er ihr da vor? Dass sie mit ihm weglief? Das hatte er zwar nicht direkt gesagt, aber … spürte er ebenso wie sie, dass ihre Krönung zur Königin ihnen für immer die Chance nahm zusammenzukommen?
»Wenn ich schon irgendwas leiten muss, dann kann ich das genauso gut hier tun«, sagte Raisa. Sie massierte ihre Stirn. Wie konnte sie es ihm nur erklären – die Verbindung, die sie zu diesen Bergen hatte, zu diesem kleinen, unvollkommenen Königinnenreich mit seinen sich ständig kabbelnden Bevölkerungsgruppen?
Raisa wollte hier sein, wo die Sonne sich am Morgen über die Felswand im Osten ergoss und die Stadt des Lichts überflutete. Sie wollte hier sein, wenn im Frühling die Drynne über die Ufer trat, genährt von der Schneeschmelze in den Spirits. Sie wollte die Espen an den Hängen von Hanalea glitzern sehen, wollte auf dem bloßen Rücken eines Pferdes in Clan-Leggins und Hemd durch das schräg einfallende Herbstlicht reiten. Sie wollte im Sommer hoch oben in den Bergen Brombeeren essen, bis ihr der Saft vom Kinn tropfte, und Clan-Tänze tanzen, bis ihr Herz schrie und ihre Füße brannten.
Die Zeit, die sie fernab der Fells verbracht hatte, hatte ihre Liebe zur Heimat nur noch verstärkt. Ebenso wie die Wahl, die er ihr gerade aufzeigte.
Sie sah Han an und suchte nach Worten, aber er schüttelte den Kopf. »Schon gut, Hoheit. Ich hatte nie damit gerechnet, dass du weglaufen würdest von all … dem.« Er zeigte mit der Hand
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