Der Wolfstrank
Unzählige kleine Härchen, die so dicht beisammen standen, dass sie sogar einen Pelz bildeten. Es war tatsächlich die erste Stufe zum Dasein des Werwolfs. Die weiteren würden folgen, so dass sie letztendlich, wenn der Vollmond am Himmel stand, ihr Menschsein endgültig verlor und somit zur Bestie wurde. Sie und ihre Enkelin.
Die Vorstellung war schrecklich für Marlene. Die Angst vor dem Unabänderlichen hockte wie ein großer Druck in ihrem Nacken. Ihr Puls raste. So musste sich jemand fühlen, der dicht vor dem Infarkt steht. Der verdammte Trank arbeitete in ihrem Körper. Er hatte schon so vieles verändert, nicht nur äußerlich, auch im Innern. Immer wieder wurde sie von Hitzewellen erwischt, die wie ein Brand bis hoch in ihren Kopf glitten.
Marlenes Haut begann zu jucken. Und das nicht nur an den Händen. Diesmal überzog es den gesamten Körper. Für sie stand fest, dass sich die Veränderung bereits ausbreitete. Es würden Haare aus den Poren wachsen. Das Jucken und Ziehen wanderte. Es erreichte ihre Schulter, auch den Nacken und erfasste ebenfalls den Rücken.
Marlene wusste, dass sie keine Chance hatte, dem Schrecklichen zu entwischen. Nur wehrte sie sich, es hier zu erleben, hier im Wald, hier in der primitiven Hütte und in dieser menschenunwürdigen Umgebung, wie sie es sah.
Sie wollte weg. Durch den Wald laufen. Nach draußen fliehen. Hinein ins Sonnenlicht, wo es auch Hoffnung gab. Der Wald war ihr zu unheimlich und zu finster.
Dann wurde sie von einem Geräusch abgelenkt. Es war vor der Hütte aufgeklungen, aber auch in deren unmittelbarer Nähe.
Es war nicht Lucy, das wusste sie genau, ohne ihre Enkelin gesehen zu haben. Die Schritte der anderen Person wirkten schwerer. Sie bahnten sich regelrecht einen Weg, und für Marlene gab es nur eine Lösung. Der Wolf befand sich auf dem Weg zu ihr.
Sie hielt den Atem an.
Noch hatte sie Zeit, aber die Sekunden vergingen einfach zu schnell. Der andere näherte sich seinem Ziel mit der Präzision eines Uhrwerks. Sie bekam mit, wie die Zweige in der Nähe des Eingangs brachen. Auch das Rascheln von Laub war zu hören.
Jemand zerrte die Tür weiter auf. Dabei schien der Ankömmling wütend zu werden, denn ein Knurren erreichte ihre Ohren. Vermischt mit einem scharfen Atmen.
Es war die Bestie. Das wusste sie jetzt überdeutlich. Und sie ließ nicht lange auf sich warten. Sie duckte sich noch, dann schob sie sich in die Hütte.
Es war düster und schattig im Innern, aber es war nicht zu finster, so dass Marlene den Eindringling recht deutlich erkennen konnte. Was sie dann sah, hätte sie sich auch nicht in ihren kühnsten Träumen vorgestellt. Der Eindringling war nicht nur Wolf und nicht nur Mensch...
Er war beides!
***
Das Heulen hatte uns alarmiert. Aber es blieb nicht bei diesem einen Mal. Wir vernahmen noch ein zweites Heulen, das wie der Klang einer Sirene durch den Wald echote und allmählich verklang.
Suko und ich schauten uns an. Wir waren noch nicht sehr tief in das fremde Gebiet eingedrungen und standen mehr am Rand. Trotzdem war das Geräusch deutlich zu hören gewesen. Hier musste ein besonderes Echo herrschen. Allerdings hatten wir nicht feststellen können, aus welcher Richtung uns das Geräusch erreicht hatte.
Suko blickte mich an, ich ihn, und er sprach aus, was ich ebenfalls dachte.
»War das ein Werwolf, John?«
»Was sonst?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Aber denke daran, dass wir mit den Bestien unsere Erfahrungen gesammelt haben.« Er schaute in die Runde. »So wie das direkte Heulen eines Werwolfs hat es mir nicht geklungen.«
»Wie dann?«
»Eher wie eine Mischung aus menschlichem Schrei und dem Heulen der Bestie.«
Mit dieser Antwort konnte ich nicht viel anfangen, aber ich hätte auch keine andere geben können, denn dieser Laut war einfach nicht so typisch gewesen.
Suko kam noch mal auf ihn zurück. »Dieser Schrei hat mir in seiner menschlichen Komponente ziemlich hoch oder schrill geklungen, als wäre er von einer Frau abgegeben worden.«
»Marlene King?«
»Oder ihre Enkelin.«
Da konnte Suko durchaus richtig liegen. Das Haus war leer gewesen. Es hatte sich niemand gemeldet.
Hinzu kamen die Aussagen des Kollegen Fenton. Es war durchaus möglich, dass es die ältere Frau nicht mehr in ihrem Haus ausgehalten hatte und in den Wald gelaufen war, um nach der Enkelin zu suchen. Dass es sie dann erwischt hatte, damit mussten wir auch rechnen.
Wir warteten darauf, dass sich das Heulen
Weitere Kostenlose Bücher