Der Wolfstrank
Aber es wird nicht mehr lange dauern, dann werde ich perfekt sein. Ganz perfekt. Auf der einen Seite ein Mensch, auf der anderen eine Wölfin.«
Die Erklärung hatte Marlene King getroffen wie eine Anklage. Sie wünschte sich, einen Traum zu erleben, doch es war keiner. Vor ihr stand tatsächlich ihre Enkelin, die ihr diese Worte gesagt hatte. Damit hatte sie noch nicht das Ende erreicht, denn sie tat etwas, um der Großmutter zu zeigen, was mit ihr bereits geschehen war.
Bisher hatten die Ärmel des dünnen Pullovers die Arme verdeckt. Das wollte Lucy ändern, und sie fing sofort damit an, indem sie den linken Ärmel in die Höhe schob, damit sie den Arm freilegen konnte.
Sie tat es langsam. Es wirkte wie einstudiert. Durch das Blätterdach der Hütte verirrte sich ein wenig Licht und tupfte auch auf die beiden Menschen nieder.
Mit einem letzten Ruck zog das Mädchen den Ärmel bis zur Schulter hin hoch, und Marlene konnte erkennen, was mit ihrer Enkelin geschehen war.
Schon einmal hatte sie die zahlreichen Haare gesehen. Die waren nicht verschwunden, aber es gab sie jetzt in einer wesentlich größeren Menge, denn sie wuchsen bis zum Schulteransatz wie ein dichter dunkler Pelz. Es war das erste Fell des Werwolfs, und damit musste Marlene erst mal fertig werden.
»Schau genau hin, Großmutter. So wie dieser Arm sieht auch der andere aus. Und es wird nicht nur bei ihnen bleiben. An den Armen fängt es nur an. Wenn die Dunkelheit über das Land fällt und der Vollmond am Himmel steht, dann geht es weiter, das kann ich dir versprechen. Dann ist meine Nacht angebrochen, dann nämlich trete ich in den Kreis der Wölfe ein.«
Marlene wollte es nicht glauben. Sie konnte es nicht glauben. Doch die Tatsachen sprachen dagegen. Als Lucy noch ihren zweiten Ärmel in die Höhe streifte, bekam sie den letzten Beweis.
»Und es geht weiter«, flüsterte das Mädchen. »Ich freue mich darauf. Ich werde den neuen Zustand erreichen, und ich werde besser sein als jeder Mensch.«
»Bitte, das ist... das... das sagst du doch nur so – oder?«
»Nein, es stimmt. Du hast mir immer gesagt, dass ich nicht lügen soll. Daran habe ich mich gehalten...«
Marlene begriff nichts mehr. Ihr brannten noch zahlreiche Fragen auf der Seele, nur fand sie einfach nicht mehr die Kraft, sie auch zu stellen. Es glich schon einem kleinen Wunder, dass sie sich noch auf den Beinen halten konnte.
Auch das verging.
Plötzlich gaben ihre Knie nach, und sie rutschte an der Innenwand des Hauses entlang nach unten.
Auch die Hände an den gespreizten Armen konnten den Fall nicht mehr aufhalten. Schließlich glitten die Beine noch nach vom weg, und sie landete hart auf ihrem Hinterteil, wobei sie den Druck bis hinein ins Steißbein spürte.
Von oben her schaute die Enkelin auf sie herab. Sie blickte einige Male und lächelte dabei. »Ich weiß nicht, ob es schon in der folgenden Nacht zur großen Verwandlung kommen wird. Es kann möglich sein. Freu dich schon darauf...« Sie lächelte noch breiter und ging zur Tür. Von dort winkte sie ihrer Großmutter zu. »Ich gehe noch etwas in den Wald. Wenn ich wiederkomme, wirst du bestimmt anders aussehen...«
Marlene King war gar nicht in der Lage, ihre Enkelin aufzuhalten. Ihr schoss nur der letzte Satz durch den Kopf, denn da hatte Lucy davon gesprochen, dass sie anders aussehen würde.
Wie anders?
Wie eine Wölfin!
Es war so schrecklich. Bisher hatte sie es sich nicht mal vorstellen können, nun aber kam alles ganz anders. Und es fuhr auf sie nieder mit der Wucht von harten Schmiedehämmern.
Sie fühlte sich innerlich völlig leer und ausgebrannt.
Sie war kaum in der Lage, sich zu erheben. In ihrem Körper steckte eine Müdigkeit, die sie schon an eine Lethargie erinnerte.
Wie würde sie aussehen, wenn erst einmal das Licht des Mondes in den Wald sickerte? Bisher hatte sie den Vollmond immer recht neutral behandelt. Sie mochte ihn nicht, aber sie lehnte ihn auch nicht ab. Der Vollmond hatte in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass sie bei seinem Schein nicht so gut schlief und von Träumen geplagt wurde. Nie hätte sie daran gedacht, dass er auf eine derartige Weise mal in ihr Leben eingreifen würde. Das war einfach schrecklich für sie.
Marlene zuckte zusammen, als sie plötzlich das Heulen hörte. Es war der Schrei eines Tieres, doch er gehörte nicht in den Wald hinein. Er war einfach zu furchtbar und schrecklich. Er konnte nicht von einem Tier stammen, sondern höchstens von einer Bestie.
Weitere Kostenlose Bücher