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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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war wie ein unendlich tiefer Brunnen: Man konnte unzählige kleine Ängste in sie hineinfallen lassen und wusste, sie würden nie zurückkommen, um einen heimzusuchen.
    Es begann zu regnen: ein feines, stetiges, durchnässendes Nieseln.
    Pen schrieb ihre Gedichte auf Bordsteine und die Innenwände von Telefonzellen, romantische Kontrapunkte zu den pink-schwarzen Visitenkarten voll mit Werbung für Schnäppchen-Sex, auf denen fleischliche Spezialitäten dem Namen folgen wie akademische Grade:
    Ruf Kara an für verruchte Stunden : BDSM , T/V, kein S, P oder B
    »… du könntest das Puzzleteil von mir sein,
    das ich niemals gesehn.«
    »Das ist echt toll, Pen«, murmelte Beth, die über Pens Schulter mitlas.
    »Findest du?« Pen beäugte die Verse unsicher.
    »Japp.« Beth wusste nicht mal die Hälfte von nichts über Gedichte, aber Pens Handschrift war wunderschön.
    Die Sonne bleichte die Häuser allmählich von der Farbe von Rauch zur Farbe uralter Knochen. Immer mehr Autos fuhren vorbei.
    »Wir sollten los«, sagte Pen schließlich und tippte dabei auf ihre Uhr. Sie runzelte die Stirn, als überlegte sie etwas, dann fügte sie hinzu: »Vielleicht sollten wir verschiedene Busse nehmen. Normalerweise kommen wir nie gleichzeitig in der Schule an – das könnte auffallen.«
    Beth lachte. »Ist das nicht ’n bisschen paranoid?«
    Pen schenkte ihr ein zaghaftes, fast stolzes Lächeln. »Kennst mich doch, B. Ich bin ’ne Meisterin im Paranoidsein.« Sie ging vor, hinaus aus der engen Gasse, dann verschmolzen sie mit der hektischen Menge.
    Pen nahm den ersten Bus.
    Während sie auf den nächsten wartete, fühlte Beth sich wie eine Spionin oder Superheldin, die wieder in ihre geheime Identität schlüpft.

Kapitel 3
    Vielleicht war es einer von seinen Würmern, der mich aufgespürt hat, als er sich schnüffelnd durch den dicken Schlamm beim Flussufer wand, oder vielleicht eine Taube, die über der Stadt ihre Kreise zog, von einem der Schläge auf den Turmdächern aus. Ich weiß bloß, dass ich aufwache und Gossenglas sich über mich beugt.
    »Sieh an, sieh an, bist ’n ganz schönes Wrack, wie?«, sagt das alte Monster ernst. »Guten Morgen, Hoheit.«
    Er – Glas ist diesmal ein »er« – blickt mit seinen brüchigen Eierschalenaugen auf mich herab. Alte gebratene Nudeln baumeln krustig von seinem Kinn wie ein schleimiger Bart. Sein Müllsackmantel bauscht sich, als die Ratten sich darunter balgen.
    »Mor–«, setze ich an, dann überschwemmt mich der Schmerz der Brandwunden, erstickt die Worte. Ich atme scharf ein und winke Glas fort. Ich brauche Luft. Er hat sich von irgendwoher einen Autoreifen geschnappt, und seine Taille läuft jetzt in ein einzelnes Rad aus statt wie sonst in zwei Beine. Quirlige braune Nagetiere flitzen im Innern herum, rollen ihn rückwärts.
    Ich beiße die Zähne zusammen, bis das Schmerzniveau einigermaßen erträglich ist, dann, immer noch groggy, sehe ich mich um. Ich liege im Schlick unter einer Brücke an der Südseite des Flusses – Vauxhall, den Bronzestatuen nach zu urteilen, die die Ufer säumen. Die Sonne schimmert hoch oben am Himmel. »Wie lange?« Meine Kehle knarzt wie ein rostiges Schloss.
    »Zu lange, ehrlich gesagt«, antwortet Glas. »Selbst die Füchse waren zurück, bevor du kamst. Muss ich dich daran erinnern, dass ich die Verantwortung für dich trage? Vorausgesetzt natürlich, dass Eure schmuddelige kleine Hoheit begreift, was das Wort Verantwortung bedeutet? Wenn dir irgendwas passiert, bin ich derjenige, der Mater Viae Rede und Antwort stehen muss.«
    Ich schließe meine Augen gegen das grelle Licht, verkneife mir die naheliegende Erwiderung. Mater Viae , Unsre Herrin der Straßen, meine Mutter – sie hat uns vor mehr als anderthalb Dekaden verlassen. Ich hasse es, wie Gossenglas vor lauter Ehrfurcht noch heute fast einen beschissenen Kniefall macht, wann immer er ihren Namen ausspricht.
    »Falls sie je zurückkommt«, sage ich, »glaubst du im Ernst, es kümmert sie, auf welchem speziellen Misthaufen Londons ich schlafe?«
    » Wenn sie zurückkommt«, korrigiert Glas mich sanft.
    Ich streite mich nicht mit ihm, weil es nicht nett ist, jemandes Glauben als lächerlich abzutun.
    Morgens findet man ihn (oder sie, wenn es ein weiblicher Körper ist, den Glas sich für diesen Tag gemacht hat) meist am Rand der Müllkippe, wo er, den Blick gen Sonnenaufgang über Mile End gerichtet, auf den Tag wartet, an dem streunende Katzen in Reih und Glied über die Gehsteige

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