Der Wunschzettel - Be Careful What You Wish For
fährt, ehe ich mich seitwärts weiterschiebe, um mich nicht mit der Nase in irgendjemandes Achselhöhle wiederzufinden. Mein Gott, wie sehr ich mir wünschte, ich könnte mich hinsetzen. Neidisch starre ich auf die Glückspilze, die einen Sitzplatz ergattert habe, während mein Blick geistesabwesend über die fremden Gesichter wandert - ein Mann mit einer grauenhaften Rüberkämmer-Frisur, ein hübsches Mädchen mit Brauenpiercing, eine alte Frau mit lachsfarbenem Make-up. Schließlich bleibt er an einem Mann mit bemerkenswert ausgeprägtem Kiefer, einem Grübchen im Kinn und einem vertrauten haselnussbraunen Augenpaar unter einem dichten Schopf schwarzer Haare hängen. Oh mein Gott, was will der denn hier?
Mein Magen zieht sich zusammen. Es ist mein Nachbar. Mein über die Maßen gut aussehender Nachbar. Der wie der dunkelhaarige Doppelgänger von Brad Pitts jüngerem Bruder aussieht. Keine Ahnung, ob Brad Pitt überhaupt einen jüngeren dunkelhaarigen Bruder hat, aber wenn ja, sieht er bestimmt genauso aus wie er. Außerdem habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie er heißt. Denn obwohl ich seit einem Jahr gegenüber von ihm wohne, kenne ich seinen Namen noch immer nicht (sehr zum Erstaunen meiner Stiefmutter, die sich damit brüstet, nicht nur die Namen, sondern auch die Lebensgewohnheiten sämtlicher Einwohner von Bath zu kennen). Aber wir sind hier in London. Die Menschen leben jahrelang neben ihren Nachbarn und nicken sich zwar auf dem Flur zu, wechseln aber nie ein Wort miteinander.
Ich hingegen weiß alles über meinen Nachbarn, der fortan mit »Er« bezeichnet wird. Ich weiß, dass er einen marineblauen Range Rover fährt, seine Lebensmittel bei Waitrose einkauft, sich bei Joseph einkleidet und mindestens einmal pro Woche bei Shanghai Surprise, dem Vietnamesen an der Ecke, etwas zu essen bestellt. Ich weiß auch, dass er ein eifriger Tennisspieler ist, sich kürzlich ein weißes Sofa zugelegt hat und, nach den Vorhängen im Schlafzimmer zu urteilen, an den Wochenenden gern bis mittags schläft.
Nicht dass ich ihn verfolge oder so etwas. Ich stolpere nur manchmal zufällig über ihn. Als er die Seite seines Buches umdreht, spähe ich auf den Titel. Ist es zu fassen? Schiffbruch mit Tiger. Mein eigenes, noch ungelesenes Exemplar dient derzeit als Tablett auf meinem Nachttisch. Ich beschließe, gleich damit anzufangen, wenn ich nach Hause komme.
Für den Bruchteil einer Sekunde male ich mir aus, wie ich auf den Stufen vor dem Haus sitze, umhüllt von jenem abendlichen Licht, das Fotografen bevorzugt als »magische Stunde« bezeichnen, weil einfach jeder umwerfend darin aussieht, vertieft in ein Kapitel des Buches, mit einer Gauloise, die ich auf diese kunstvolle französische Art in den Fingern halte, während sich mein Haar verführerisch über mein Gesicht ergießt. Als ich jemanden »Hey, wie finden Sie das Buch?« fragen höre, hebe ich den Kopf, sehe meinen Nachbarn lächelnd über die Hecke spähen und gebe eine geistreiche witzige Erwiderung. Ehe ich mich versehe, bin ich in eine angeregte Unterhaltung über die Charaktere, Handlungsstränge und den klugen Einsatz von Dialogen verstrickt …
Ein unvermittelter Zustrom neuerlicher Fahrgäste drängt mich weiter gegen die Wand des Wagons und holt mich in die Gegenwart zurück. In der »Er« mich noch nie bemerkt hat. Für ihn bin ich unsichtbar. Aber vielleicht ist das gar nicht so übel, da ich jedes Mal, wenn ich ihm über den Weg laufe, völlig lächerlich aussehe. Eilig versuche ich, meine in Golfschuhen steckenden Füße hinter der Aktentasche eines Fahrgastes zu verbergen.
Zum Beispiel letzte Woche. Nach meiner Joggingrunde durch den Park war ich am Hauseingang stehen geblieben, um Atem zu schöpfen. Meine Knie zitterten, mein Haar klebte schweißfeucht an meiner Stirn, und wer bog frisch rasiert und absolut perfekt um die Ecke? »Er« natürlich.
Vor ein paar Wochen lud ich gerade meine Einkäufe aus dem Kofferraum und stand mit einem Riesenpaket Klopapier da, als er rückwärts in seinen Parkplatz stieß. Und dann dieser Tag, als ich das Altpapier nach draußen brachte - in meinem alten ausgeleierten Morgenrock und mit einer Thermomaske im Gesicht, die sich am Ende der Einwirkzeit leuchtend blau färbt. Und er stand rein zufällig am Fenster. Genau in der Sekunde, als mein Morgenrock vorn auseinanderfiel und er in den Genuss eines Frontalanblicks meines Dekolletees kam.
»Er« sieht abrupt auf, so wie es Leute tun, wenn sie den Blick eines
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