Der Zauberberg
wirklich etwas krank?«
»Ja, ich bin leider ziemlich krank«, erwiderte Herr Settembrini und ließ das Haupt sinken. Es trat eine Pause ein, in der er hüstelte. Hans Castorp blickte aus seiner Ruhelage auf den zum Schweigen gebrachten Gast. Ihm war, als hätte er mit seinen beiden sehr einfachen Fragen alles mögliche widerlegt und zum Verstummen gebracht, sogar die Republik und den schönen Stil. Von seiner Seite tat er nichts, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
Nach einer Weile richtete Herr Settembrini sich lächelnd wieder auf.
»Erzählen Sie mir nun, Ingenieur,« sagte er, »wie haben die Ihren die Nachricht aufgenommen?«
»Das heißt, welche Nachricht? Von der Verzögerung meiner Abreise? Ach, die Meinen, wissen Sie, die Meinen zu Hause bestehen aus drei Onkels, einem Großonkel und zwei Söhnen von ihm, zu denen ich mehr in Vetternverhältnis stehe. Weiter habe ich keine Meinen, ich bin ja sehr früh Doppelwaise geworden. Aufgenommen? Sie wissen ja noch nicht viel, nicht mehr, als ich selbst. Zu Anfang, als ich mich legen mußte, habe ich ihnen geschrieben, ich sei stark erkältet und könne nicht reisen. Und gestern, da es nun doch ein bißchen lange dauerte, habe ich noch einmal geschrieben und gesagt, Hofrat Behrens sei durch den Katarrh auf den Zustand meiner Brust aufmerksam geworden und dringe darauf, daß ich meinen Aufenthalt verlängere, bis Klarheit darüber geschaffen ist. Davon werden sie sehr ruhigen Blutes Kenntnis genommen haben.«
{300} »Und Ihr Posten? Sie sprachen von einem praktischen Wirkungskreis, in den Sie eben einzutreten gedachten.«
»Ja, als Volontär. Ich habe gebeten, mich vorläufig auf der Werft zu entschuldigen. Sie müssen nicht denken, daß deswegen da Verzweiflung herrscht. Die können sich beliebig lange auch ohne Volontär behelfen.«
»Sehr gut! Von dieser Seite betrachtet, ist also alles in Ordnung. Phlegma auf der ganzen Linie. Man ist überhaupt phlegmatisch bei Ihnen zu Lande, nicht wahr? Aber auch energisch!«
»O ja, energisch auch, doch, sehr energisch«, sagte Hans Castorp. Er prüfte die heimatliche Lebensstimmung aus der Entfernung und fand, daß sein Unterredner sie richtig kennzeichne. »Phlegmatisch und energisch, so sind sie wohl.«
»Nun,« fuhr Herr Settembrini fort, »sollten Sie länger bleiben, so wird es ja nicht fehlen, daß wir hier oben die Bekanntschaft Ihres Herrn Onkels – ich meine den Großonkel – machen. Zweifellos wird er heraufkommen, sich nach Ihnen umzusehen.«
»Ausgeschlossen!« rief Hans Castorp. »Unter gar keinen Umständen! Keine zehn Pferde bringen ihn hier herauf! Mein Onkel ist stark apoplektisch, wissen Sie, er hat fast keinen Hals. Nein, der braucht einen vernünftigen Luftdruck, es würde ihm hier noch schlimmer ergehen als Ihrer Dame aus dem Osten, alle Zustände würde er kriegen.«
»Das enttäuscht mich. Apoplektisch also? Was nützen mir da Phlegma und Energie. – Ihr Herr Onkel ist wohl reich? Auch Sie sind reich? Man ist reich bei Ihnen zu Hause.«
Hans Castorp lächelte über Herrn Settembrinis schriftstellerische Verallgemeinerung, und dann blickte er wieder aus seiner Ruhelage ins Weite, in die heimatliche Sphäre, der er entrückt war. Er erinnerte sich, er versuchte, unpersönlich zu urteilen, die Distanz ermunterte und befähigte ihn dazu. Er antwortete:
{301} »Man ist reich, ja, – oder man ist es nicht. Und wenn nicht, – desto schlimmer. Ich? Ich bin kein Millionär, aber das meine ist mir sichergestellt, ich bin unabhängig, ich habe zu leben. Sehen wir von mir mal ab. Wenn Sie gesagt hätten: Man
muß
reich sein da hinten, – dann hätte ich Ihnen zugestimmt. Denn angenommen, man ist
nicht
reich, oder hört auf, es zu sein, – dann wehe. ›Der? Hat der denn noch Geld?‹ fragen sie … Wörtlich so und mit genau solchem Gesicht; ich habe es oft gehört, und ich merke, daß es sich mir eingeprägt hat. Also muß es mir doch wohl sonderbar vorgekommen sein, obgleich ich gewöhnt war, es zu hören, – sonst hätte es sich mir nicht eingeprägt. Oder wie meinen Sie? Nein, ich glaube nicht, daß es zum Beispiel Ihnen, als homo humanus, zusagen würde bei uns; selbst mir, der ich doch dort zu Hause bin, ist es öfters kraß vorgekommen, wie ich nachträglich merke, obgleich ich persönlich ja nicht darunter zu leiden gehabt habe. Wer nicht die besten, teuersten Weine servieren läßt bei seinen Diners, zu dem geht man überhaupt nicht, und seine Töchter bleiben sitzen.
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