Der Zauberberg
schräg vorgeschoben – »wollen Sie mir auch fernerhin,« sagte er, und es war eine leichte Bewegung in seiner Stimme, »erlauben, Ihnen bei Ihren Übungen und Experimenten ein wenig zur Hand zu gehen und berichtigend auf Sie einzuwirken, wenn die Gefahr verderblicher Fixierungen droht?«
»Aber gewiß, Herr Settembrini!« Hans Castorp beeilte sich, seine befangene und halb trotzige Abkehr aufzugeben, das Trommeln auf der Bettdecke zu unterlassen und sich seinem Gaste mit bestürzter Freundlichkeit zuzuwenden. »Es ist sogar außerordentlich liebenswürdig von Ihnen … Ich frage mich wirklich, ob ich … Das heißt, ob es sich bei mir …«
»Ganz sine pecunia«, zitierte Herr Settembrini, indem er aufstand. »Wer will sich denn lumpen lassen.« Sie lachten. Man hörte die äußere Doppeltür gehen, und im nächsten Augenblick wurde auch die innere geklinkt. Es war Joachim, der aus der Abendgeselligkeit zurückkehrte. Beim Anblick des Italieners errötete auch er, wie Hans Castorp für sein Teil es vorhin getan: die verbrannte Dunkelheit seines Gesichtes vertiefte sich um eine Schattierung.
»Oh, du hast Besuch«, sagte er. »Wie angenehm für dich. Ich bin aufgehalten worden. Sie haben mich zu einer Partie Bridge gepreßt, – Bridge nennen sie das nach außen hin,« sagte er kopfschüttelnd, »und dabei war es schließlich ganz was anderes. Ich habe fünf Mark gewonnen …«
»Daß das nur keine lasterhafte Anziehungskraft für dich bekommt«, sagte Hans Castorp. »Hm, hm. Herr Settembrini hat mir unterdessen so schön die Zeit vertrieben … was übrigens gar kein Ausdruck ist. Es gilt allenfalls von euerem falschen {307} Bridge, aber Herr Settembrini hat mir die Zeit so bedeutend ausgefüllt … Als anständiger Mensch müßte man ja mit Händen und Füßen trachten, hier fortzukommen, – wo es nun schon mit falschem Bridge losgeht in euerer Mitte. Aber um Herrn Settembrini noch recht oft zu hören und mir von ihm gesprächsweise zur Hand gehen zu lassen, könnte ich beinahe wünschen, unabsehbar lange febril zu bleiben und hier bei euch festzusitzen … Am Ende muß man mir noch eine Stumme Schwester geben, damit ich nicht mogle.«
»Ich wiederhole, Ingenieur, daß Sie ein Schalk sind«, sagte der Italiener. Er empfahl sich in den angenehmsten Formen. Mit seinem Vetter allein geblieben, seufzte Hans Castorp auf.
»Ist das ein Pädagog!« sagte er … »Ein humanistischer Pädagog, das muß man gestehen. Immerfort wirkt er berichtigend auf dich ein, abwechselnd in Form von Geschichten und in abstrakter Form. Und auf Dinge kommt man mit ihm zu sprechen, – nie hätte man gedacht, daß man darüber reden oder sie auch nur verstehen könnte. Und wenn ich unten im Flachlande mit ihm zusammengetroffen wäre, so
würde
ich sie auch nicht verstanden haben«, fügte er hinzu.
Joachim blieb um diese Zeit eine Weile bei ihm; er opferte zwei, drei Viertelstunden von seiner Abendliegekur. Manchmal spielten sie Schach auf Hans Castorps Eßtischplatte, – Joachim hatte ein Spiel von unten heraufgebracht. Später begab er sich mit Sack und Pack, das Thermometer im Munde, auf seinen Balkon, und auch Hans Castorp maß sich ein letztes Mal, während leichte Musik von näher oder fernher aus dem nächtlichen Tale heraufklang. Um zehn Uhr wurde die Liegekur beendigt; man hörte Joachim; man hörte das Ehepaar vom Schlechten Russentisch … Und Hans Castorp nahm Seitenlage ein, in Erwartung des Schlafes.
Die Nacht war die schwierigere Hälfte des Tages, denn Hans Castorp erwachte oft und lag nicht selten stundenlang wach, sei {308} es, weil seine nicht ganz korrekte Blutwärme ihn munter hielt, oder weil Lust und Kraft zum Schlafe durch seine derzeit völlig horizontale Lebensweise Einbuße erlitten. Dafür waren die Stunden des Schlummers von abwechslungsreichen und sehr lebensvollen Träumen belebt, denen er nachhängen konnte, während er wach lag. Und wenn die vielfache Gliederung und Einteilung des Tages diesen kurzweilig machte, so war es bei Nacht die verschwimmende Einförmigkeit der schreitenden Stunden, was in der gleichen Richtung wirkte. Nahte sich aber erst einmal der Morgen, so war es unterhaltend, das allmähliche Ergrauen und Erscheinen des Zimmers, das Hervortreten und Entschleiertwerden der Dinge zu beobachten, den Tag draußen in trüb schwelender oder heiterer Glut sich entzünden zu sehen; und eh mans gedacht, war wieder der Augenblick da, wo das handfeste Klopfen des Bademeisters das
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