Der Zauberberg
daß man unter diesen Umständen nicht so recht derb gesinnt sein und die Grausamkeit der Leute ganz natürlich finden kann, – der gewöhnlichen Leute, wissen Sie, die herumgehen und lachen und Geld verdienen und sich den Bauch vollschlagen … Ich weiß nicht, ob ich mich richtig …«
Settembrini verbeugte sich. »Sie wollen sagen,« erläuterte er, {304} »daß die frühe und wiederholte Berührung mit dem Tode eine Grundstimmung des Gemütes zeitigt, die gegen die Härten und Kruditäten des unbedachten Weltlebens, sagen wir: gegen seinen Zynismus reizbar und empfindlich macht.«
»Genau so!« rief Hans Castorp in aufrichtiger Begeisterung. »Tadellos ausgedrückt bis aufs i-Tüpfelchen, Herr Settembrini! Mit dem Tode –! Ich wußte es ja, daß Sie als Literat …«
Settembrini streckte die Hand gegen ihn aus, indem er den Kopf auf die Seite legte und die Augen schloß, – eine sehr schöne und sanfte Gebärde des Einhalttuns und der Bitte um weiteres Gehör. Er verharrte mehrere Sekunden in dieser Stellung, auch als Hans Castorp schon lange schwieg und in einiger Verlegenheit der Dinge wartete, die da kommen sollten. Endlich schlug er seine schwarzen Augen – die Augen der Drehorgelmänner – wieder auf und sprach:
»Gestatten Sie. Gestatten Sie mir, Ingenieur, Ihnen zu sagen und Ihnen ans Herz zu legen, daß die einzig gesunde und edle, übrigens auch – ich will das ausdrücklich hinzufügen – auch die einzig
religiöse
Art, den Tod zu betrachten, die ist, ihn als Bestandteil und Zubehör, als heilige Bedingung des Lebens zu begreifen und zu empfinden,
nicht
aber – was das Gegenteil von gesund, edel, vernünftig und religiös wäre – ihn geistig irgendwie davon zu scheiden, ihn in Gegensatz dazu zu bringen und ihn etwa gar widerwärtigerweise dagegen auszuspielen. Die Alten schmückten ihre Sarkophage mit Sinnbildern des Lebens und der Zeugung, sogar mit obszönen Symbolen, – das Heilige war der antiken Religiosität ja sehr häufig eins mit dem Obszönen. Diese Menschen wußten den Tod zu ehren. Der Tod ist ehrwürdig als Wiege des Lebens, als Mutterschoß der Erneuerung. Vom Leben getrennt gesehen, wird er zum Gespenst, zur Fratze – und zu etwas noch Schlimmerem. Denn der Tod als selbständige geistige Macht ist eine höchst liederliche Macht, deren lasterhafte Anziehungskraft zweifellos sehr {305} stark ist, aber mit der zu sympathisieren ebenso unzweifelhaft die gräulichste Verirrung des Menschengeistes bedeutet.«
Hier schwieg Herr Settembrini. Er blieb bei dieser Allgemeinheit stehen und endete auf das bestimmteste. Es war ihm Ernst; nicht unterhaltungsweise hatte er geredet, hatte es verschmäht, seinem Partner Gelegenheit zur Anknüpfung und Gegenrede zu bieten, sondern am Ende seiner Aufstellungen die Stimme sinken lassen und einen Punkt gemacht. Er saß geschlossenen Mundes, die gekreuzten Hände im Schoß, ein Bein in der karierten Hose über das andere geschlagen, und wippte nur leicht mit dem in der Luft schwebenden Fuß, den er streng betrachtete.
Auch Hans Castorp schwieg denn also. In seinem Plumeau sitzend, wandte er den Kopf zur Wand und trommelte leicht mit den Fingerspitzen auf der Steppdecke. Er kam sich belehrt, zurechtgewiesen, ja gescholten vor, und in seinem Schweigen lag viel kindliche Verstocktheit. Die Gesprächspause dauerte ziemlich lange.
Endlich hob Herr Settembrini wieder das Haupt und sagte lächelnd:
»Erinnern Sie sich wohl, Ingenieur, daß wir einen ähnlichen Disput schon einmal geführt haben – man kann sagen: denselben? Wir plauderten damals – ich glaube, es war auf einem Spaziergang – über Krankheit und Dummheit, deren Vereinigung Sie für eine Paradoxie erklärten, und zwar aus Hochachtung vor der Krankheit. Ich nannte diese Hochachtung eine düstere Grille, mit der man den Gedanken des Menschen entehre, und Sie schienen zu meinem Vergnügen denn doch nicht ganz abgeneigt, meinen Einwand in Erwägung zu ziehen. Wir sprachen auch von der Neutralität und geistigen Unschlüssigkeit der Jugend, von ihrer Wahlfreiheit, ihrer Neigung, mit den möglichen Standpunkten Versuche anzustellen, und davon, daß man solche Versuche noch nicht als endgültige und le {306} bensernste Optionen betrachten dürfe, – zu betrachten brauche. Wollen Sie mir –,« und Herr Settembrini beugte sich lächelnd auf seinem Stuhle vor, die Füße nebeneinander am Boden, die zusammengelegten Hände zwischen den Knien, den Kopf gleichfalls etwas
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