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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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in sein Inneres geblickt.
    Er stieg ab, verwirrt und betäubt von dem, was mit ihm geschehen, obgleich ja die Durchdringung ihm nicht im geringsten empfindlich geworden war. »Brav«, sagte der Hofrat. »Nun werden wir selber sehen.« Und schon hatte Joachim, bewandert wie er war, sich weiter hinbegeben, näher der Ausgangstür an einem Stativ Aufstellung genommen, im Rücken den weitläufig sich aufbauenden Apparat, auf dessen Rückenhöhe man eine halb mit Wasser gefüllte Glasblase mit Verdunstungsröhre gewahrte, vor sich, in Brusthöhe, einen gerahmten Schirm, der an Rollzügen schwebte. Zu seiner Linken, inmitten eines Schaltbretts und Instrumentariums, erhob sich eine rote Lampenglocke. Der Hofrat, vor dem hängenden Schirm auf einem Schemel reitend, entzündete sie. Das Deckenlicht erlosch, nur das Rubinlicht noch erhellte die Szene. Dann hob der Meister auch dieses mit kurzem Handgriff auf, und dichteste Finsternis hüllte die Laboranten ein.
    »Erst müssen die Augen sich gewöhnen«, hörte man den Hofrat im Dunkel sagen. »Ganz große Pupillen müssen wir erst kriegen, wie die Katzen, um zu sehen, was wir sehen wollen. Das verstehen Sie ja wohl, daß wir es so ohne weiteres mit unseren gewöhnlichen Tagaugen nicht ordentlich sehen könnten. Den hellen Tag mit seinen fidelen Bildern müssen wir uns erst mal aus dem Sinn schlagen zu dem Behuf.«
    »Selbstredend«, sagte Hans Castorp, der hinter des Hofrats Schulter stand, und schloß die Augen, da es ganz gleichgültig war, ob man sie offen hielt, oder nicht, so schwarz war die Nacht. »Erst müssen wir uns mal die Augen mit Finsternis {330} waschen, um so was zu sehen, das ist doch klar. Ich finde es sogar gut und richtig, daß wir uns vorher ein bißchen sammeln, sozusagen in stillem Gebet. Ich stehe hier und habe die Augen geschlossen, es ist mir angenehm schläfrig zu Sinn. Aber wonach riecht es hier nur?«
    »Sauerstoff«, sagte der Hofrat. »Das ist Oxygen, was Sie in den Lüften spüren. Atmosphärisches Produkt des Stubengewitters, verstehen Sie mich … Augen auf!« sagte er. »Jetzt fängt die Beschwörung an.« Hans Castorp gehorchte eilig.
    Man hörte das Umlegen eines Hebels. Ein Motor sprang auf und sang wütend in die Höhe, wurde aber durch einen neuen Handgriff zur Stetigkeit gebändigt. Der Fußboden bebte gleichmäßig. Das rote Lichtlein, länglich und senkrecht, blickte mit stillem Drohen herüber. Irgendwo knisterte ein Blitz. Und langsam, mit milchigem Schein, ein sich erhellendes Fenster, trat aus dem Dunkel das bleiche Viereck des Leuchtschirms hervor, vor welchem Hofrat Behrens auf seinem Schusterschemel ritt, die Schenkel gespreizt, die Fäuste daraufgestemmt, die Stumpfnase dicht an der Scheibe, die Einblick in eines Menschen organisches Inneres gewährte.
    »Sehen Sie, Jüngling?« fragte er … Hans Castorp beugte sich über seine Schulter, hob aber noch einmal den Kopf, dorthin, wo im Dunkel Joachims Augen zu vermuten waren, die sanft und traurig blicken mochten, wie damals bei der Untersuchung, und fragte:
    »Du erlaubst doch?«
    »Bitte, bitte«, antwortete Joachim liberal aus seiner Finsternis. Und beim Schüttern des Erdbodens, im Knistern und Rumoren der spielenden Kräfte spähte Hans Castorp gebückt durch das bleiche Fenster, spähte durch Joachim Ziemßens leeres Gebein. Der Brustknochen fiel mit dem Rückgrat zur dunklen, knorpeligen Säule zusammen. Das vordere Rippengerüst wurde von dem des Rückens überschnitten, das blasser {331} erschien. Geschwungen zweigten oben die Schlüsselbeine nach beiden Seiten ab, und in der weichen Lichthülle der Fleischesform zeigten sich dürr und scharf das Schulterskelett, der Ansatz von Joachims Oberarmknochen. Es war hell im Brustraum, aber man unterschied ein Geäder, dunkle Flecke, ein schwärzliches Gekräusel.
    »Klares Bild«, sagte der Hofrat. »Das ist die anständige Magerkeit, die militärische Jugend. Ich habe hier Wänste gehabt, – undurchdringlich, beinahe nichts zu erkennen. Die Strahlen müßte man erst mal entdecken, die durch so eine Fettschicht gehen … Dies hier ist saubere Arbeit. Sehen Sie das Zwerchfell?« sagte er und wies mit dem Finger auf den dunklen Bogen, der sich unten im Fenster hob und senkte … »Sehen Sie die Buckel hier linkerseits, die Erhöhungen? Das ist die Rippenfellentzündung, die er mit fünfzehn Jahren hatte. Tief atmen!« kommandierte er. »Tiefer! Ich sage
tief
!« Und Joachims Zwerchfell senkte sich zitternd, so tief es

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