Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
gab Behrens den jungen Leuten einige Auskunft über seine Beobachtungen, unter Berücksichtigung ihrer laienhaften Auffassungsfähigkeit. Was im besonderen Hans Castorp betraf, so hatte der optische Befund den akustischen so genau bestätigt, wie die Ehre der Wissenschaft es nur irgend verlangte. Es seien die alten Stellen sowohl wie die frische zu sehen gewesen, und {334} »Stränge« zögen sich von den Bronchien aus ziemlich weit in das Organ hinein, – »Stränge mit Knötchen«. Hans Castorp werde es selbst auf dem Diapositivbildchen nachprüfen können, das ihm, wie gesagt, demnächst werde eingehändigt werden. Also Ruhe, Geduld, Mannszucht, messen, essen, liegen, abwarten und Tee trinken. Er wandte ihnen den Rücken. Sie gingen. Hans Castorp, hinter Joachim, blickte im Hinausgehen über die Schulter. Vom Techniker eingelassen, betrat Frau Chauchat das Laboratorium.

Freiheit
    Wie kam es dem jungen Hans Castorp eigentlich vor? Etwa so, als ob die sieben Wochen, die er nun nachweislich und ohne allen Zweifel schon bei Denen hier oben verbracht hatte, nur sieben Tage gewesen wären? Oder schien ihm im Gegenteil, daß er schon viel, viel länger, als wirklich zutraf, an diesem Orte lebe? Er fragte sich selbst danach, sowohl innerlich, wie auch in der Form, daß er Joachim danach fragte, konnte aber zu keiner Entscheidung kommen. Es war wohl beides der Fall: zugleich unnatürlich kurz und unnatürlich lang erschien ihm im Rückblick die hier verbrachte Zeit, nur eben wie es wirklich damit war, so wollte es ihm nicht scheinen, – wobei vorausgesetzt wird, daß Zeit überhaupt Natur, und daß es statthaft ist, den Begriff der Wirklichkeit mit ihr in Verbindung zu bringen.
    Auf jeden Fall stand der Oktober vor der Tür, jeden Tag konnte er eintreten. Es war ein leichtes für Hans Castorp, sich das auszurechnen, und außerdem wurde er durch Gespräche seiner Mitpatienten darauf hingewiesen, denen er zuhörte. »Wissen Sie, daß in fünf Tagen wieder einmal der Erste ist?« hörte er Hermine Kleefeld zu zwei jungen Herren ihrer Gesellschaft sagen, dem Studenten Rasmussen und jenem Wulstlippigen, dessen Name Gänser war. Man stand nach der Haupt {335} mahlzeit im Speisedunst zwischen den Tischen herum und zögerte plaudernd, in die Liegekur zu gehen. »Der erste Oktober, ich habe es in der Verwaltung auf dem Kalender gesehen. Das ist der zweite seiner Art, den ich an diesem Lustort verlebe. Schön, der Sommer ist hin, soweit er vorhanden war, man ist um ihn betrogen, wie man um das Leben betrogen ist, im ganzen und überhaupt.« Und sie seufzte aus ihrer halben Lunge, indem sie kopfschüttelnd ihre von Dummheit umschleierten Augen zur Decke richtete. »Lustig, Rasmussen!« sagte sie hierauf und schlug ihrem Kameraden auf die abfallende Schulter. »Machen Sie Witze!« »Ich weiß nur wenige«, erwiderte Rasmussen und ließ die Hände wie Flossen in Brusthöhe hängen; »die aber wollen mir nicht vonstatten gehn, ich bin immer so müde.« »Es möchte kein Hund,« sagte Gänser hinter den Zähnen, »so oder ähnlich noch viel länger leben.« Und sie lachten achselzuckend.
    Aber auch Settembrini, seinen Zahnstocher zwischen den Lippen, hatte in der Nähe gestanden, und im Hinausgehen sagte er zu Hans Castorp:
    »Glauben Sie ihnen nicht, Ingenieur, glauben Sie ihnen niemals, wenn sie schimpfen! Das tun sie alle ohne Ausnahme, obgleich sie sich nur zu sehr zu Hause fühlen. Führen ein Lotterleben und erheben auch noch Anspruch auf Mitleid, dünken sich zur Bitterkeit berechtigt, zur Ironie, zum Zynismus! ›An diesem Lustort!‹ Ist es vielleicht kein Lustort? Ich will meinen, daß es einer ist, und zwar in des Wortes zweifelhaftester Bedeutung! ›Betrogen‹, sagt dies Frauenzimmer; ›an diesem Lustort um das Leben betrogen.‹ Aber entlassen Sie sie in die Ebene, und ihr Lebenswandel dort unten wird keinen Zweifel darüber lassen, daß sie es darauf anlegt, baldmöglichst wieder heraufzukommen. Ach ja, die Ironie! Hüten Sie sich vor der hier gedeihenden Ironie, Ingenieur! Hüten Sie sich überhaupt vor dieser geistigen Haltung! Wo sie nicht ein gerades und {336} klassisches Mittel der Redekunst ist, dem gesunden Sinn keinen Augenblick mißverständlich, da wird sie zur Liederlichkeit, zum Hindernis der Zivilisation, zur unsauberen Liebelei mit dem Stillstand, dem Ungeist, dem Laster. Da die Atmosphäre, in der wir leben, dem Gedeihen dieses Sumpfgewächses offenbar sehr günstig ist, darf ich hoffen oder muß

Weitere Kostenlose Bücher