Der Zauberberg
das Glück der Menschheit herbeizuführen, mit anderen Worten: das menschliche Leiden durch zweckvolle soziale Arbeit zu bekämpfen und am Ende völlig auszumerzen, – eingedenk ferner der Wahrheit, daß diese höchste Aufgabe nur mit Hilfe der soziologischen Wissenschaft gelöst werden kann, deren Endziel der vollkommene Staat ist, – der Bund also hat in Barcelona die Herstellung eines vielbändigen Buchwerkes beschlossen, das den Titel ›Soziologie der Leiden‹ führen wird, und worin die menschlichen Leiden nach allen ihren Klassen und Gattungen in genauer und erschöpfender Systematik bearbeitet werden sollen. Sie werden mir einwenden: was nützen Klassen, Gattungen, Systeme! Ich antworte Ihnen: Ordnung und Sichtung sind der Anfang der Beherrschung, und der eigentlich furchtbare Feind ist der unbekannte. Man muß das Menschengeschlecht aus den primitiven Stadien der Furcht und der duldenden Dumpfheit herausführen und es zur Phase zielbewußter Tätigkeit leiten. Man muß es darüber aufklären, daß Wirkungen hinfällig werden, deren Ursachen man zuerst erkennt und dann aufhebt, und daß fast alle Leiden des Individuums Krankheiten des sozialen Organismus sind. Gut! Dies ist die Absicht der ›Soziologischen Pathologie‹. Sie wird also in etwa zwanzig Bänden von Lexikonformat alle menschlichen Leidensfälle aufführen und behandeln, die sich überhaupt erdenken lassen, von den persönlichsten und intimsten bis zu den großen Gruppenkonflikten, den Leiden, die aus Klassenfeindschaften und internationalen Zusammenstößen erwachsen, sie wird, kurz gesagt, die chemischen Elemente aufzeigen, aus deren vielfältiger Mischung und Verbindung sich alles menschliche Leiden zusammensetzt, und indem sie die Würde und das Glück der Menschheit zur Richtschnur nimmt, wird {374} sie ihr in jedem Falle die Mittel und Maßnahmen an die Hand geben, die ihr zur Beseitigung der Leidensursachen angezeigt scheinen. Berufene Fachmänner der europäischen Gelehrtenwelt, Ärzte, Volkswirte und Psychologen, werden sich in die Ausarbeitung dieser Enzyklopädie der Leiden teilen, und das General-Redaktionsbureau zu Lugano wird das Sammelbecken sein, in dem die Artikel zusammenfließen. Sie fragen mich mit den Augen, welche Rolle nun mir bei all dem zufallen soll? Lassen Sie mich zu Ende reden! Auch den schönen Geist will dieses große Werk nicht vernachlässigen, soweit er eben menschliches Leiden zum Gegenstande hat. Darum ist ein eigener Band vorgesehen, der, den Leidenden zu Trost und Belehrung, eine Zusammenstellung und kurzgefaßte Analyse aller für jeden einzelnen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur enthalten soll; und – dies ist die Aufgabe, mit der man in dem Schreiben, das Sie hier sehen, Ihren ergebensten Diener betraut.«
»Was Sie sagen, Herr Settembrini! Da erlauben Sie mir aber, Sie herzlich zu beglückwünschen! Das ist ja ein großartiger Auftrag und ganz wie für Sie gemacht, wie mir scheint. Es wundert mich keinen Augenblick, daß die Liga an Sie gedacht hat. Und wie muß es Sie freuen, daß Sie da nun behilflich sein können, die menschlichen Leiden auszumerzen!«
»Es ist eine weitläufige Arbeit,« sagte Herr Settembrini sinnend, »zu der viel Umsicht und Lektüre erforderlich ist. Zumal,« fügte er hinzu, während sein Blick sich in der Vielfältigkeit seiner Aufgabe zu verlieren schien, »zumal in der Tat der schöne Geist sich fast regelmäßig das Leiden zum Gegenstande gesetzt hat und selbst Meisterwerke zweiten und dritten Ranges sich irgendwie damit beschäftigen. Gleichviel oder desto besser! So umfassend die Aufgabe immer sein möge, auf jeden Fall ist sie von der Art, daß ich mich ihrer zur Not auch an diesem verfluchten Aufenthalt entledigen kann, obgleich ich {375} nicht hoffen will, daß ich gezwungen sein werde, sie hier zu beenden. Man kann dasselbe,« fuhr er fort, indem er wieder näher an Hans Castorp herantrat und die Stimme beinahe zum Flüstern dämpfte, »man kann dasselbe von den Pflichten nicht sagen, die
Ihnen
die Natur auferlegt, Ingenieur! Das ist es, worauf ich hinauswollte, woran ich Sie mahnen wollte. Sie wissen, wie sehr ich Ihren Beruf bewundere, aber da er ein praktischer, kein geistiger Beruf ist, so können Sie ihm, anders als ich, nur in der Welt drunten nachkommen. Nur im Tiefland können Sie Europäer sein, das Leiden auf Ihre Art aktiv bekämpfen, den Fortschritt fördern, die Zeit nutzen. Ich habe Ihnen von der mir zugefallenen
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