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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Jahre 1755.«
    »Entschuldigen Sie.«
    »Nun, Voltaire empörte sich dagegen.«
    »Das heißt … wie? Er empörte sich?«
    »Er revoltierte, ja. Er nahm das brutale Fatum und Faktum nicht hin, er weigerte sich, davor abzudanken. Er protestierte im Namen des Geistes und der Vernunft gegen diesen skandalösen Unfug der Natur, dem drei Viertel einer blühenden Stadt und Tausende von Menschenleben zum Opfer fielen … Sie staunen? Sie lächeln? Mögen Sie immerhin staunen, was das Lächeln betrifft, so nehme ich mir die Freiheit, es Ihnen zu verweisen! Voltaires Haltung war die eines echten Nachkömmlings jener alten Gallier, die ihre Pfeile gegen den Himmel schleuderten … Sehen Sie, Ingenieur, da haben Sie die Feindschaft des Geistes gegen die Natur, sein stolzes Mißtrauen gegen sie, sein hochherziges Bestehen auf dem Rechte zur Kritik an ihr und ihrer bösen, vernunftwidrigen Macht. Denn sie ist die Macht, und es ist knechtisch, die Macht hinzunehmen, sich mit ihr abzufinden … wohlgemerkt, sich
innerlich
mit ihr abzufinden. Da haben Sie aber auch jene Humanität, die sich schlechterdings in keinen Widerspruch verstrickt, sich keines Rückfalls in christliche Duckmäuserei schuldig macht, wenn sie im Körper das böse, das widersacherische Prinzip zu erblikken sich entschließt. Der Widerspruch, den Sie zu sehen meinen, ist im Grunde immer derselbe. ›Was haben Sie gegen die Analyse?‹ Nichts … wenn sie Sache der Belehrung, der Befreiung und des Fortschritts ist. Alles … wenn ihr der scheußliche haut-goût des Grabes anhaftet. Es ist mit dem Körper nicht anders. Man muß ihn ehren und verteidigen, wenn es sich um seine Emanzipation und Schönheit handelt, um die Freiheit {381} der Sinne, um Glück, um Lust. Man muß ihn verachten, sofern er als Prinzip der Schwere und der Trägheit sich der Bewegung zum Lichte entgegensetzt, ihn verabscheuen, sofern er gar das Prinzip der Krankheit und des Todes vertritt, sofern sein spezifischer Geist der Geist der Verkehrtheit ist, der Geist der Verwesung, der Wollust und der Schande …«
    Settembrini hatte die letzten Worte, dicht vor Hans Castorp stehend, fast ohne Ton und sehr rasch gesprochen, um fertig zu werden. Entsatz näherte sich für Hans Castorp: Joachim betrat, zwei Postkarten in der Hand, das Lesezimmer, die Rede des Literaten brach ab, und die Gewandtheit, mit der sein Ausdruck ins gesellschaftlich Leichte hinüberwechselte, verfehlte nicht ihren Eindruck auf seinen Schüler, – wenn man Hans Castorp so nennen konnte.
    »Da sind Sie, Leutnant! Sie werden Ihren Vetter gesucht haben, – verzeihen Sie! Wir waren da in ein Gespräch geraten, – wenn mir recht ist, hatten wir sogar einen kleinen Zwist. Er ist kein übler Räsonneur, Ihr Vetter, ein durchaus nicht ungefährlicher Gegner im Wortstreit, wenn es ihm darauf ankommt.«

Humaniora
    Hans Castorp und Joachim Ziemßen saßen in weißen Hosen und blauen Jacken nach dem Diner im Garten. Es war noch einer dieser gepriesenen Oktobertage, ein Tag, heiß und leicht, festlich und herb zugleich, mit südlich dunkler Himmelsbläue über dem Tal, dessen von Wegen durchzogene und besiedelte Triften im Grunde noch heiter grünten, und von dessen rauh bewaldeten Lehnen Kuhgeläut kam, – dieser blechern-friedliche, einfältig-musikalische Laut, der klar und ungestört durch die stillen, dünnen, leeren Lüfte schwebte, die Feierstimmung vertiefend, die über hohen Gegenden waltet.
    Die Vettern saßen auf einer Bank am Ende des Gartens vor {382} einem Rondell junger Tannen. – Der Platz lag am nordwestlichen Rande der eingezäunten, um fünfzig Meter über das Tal erhöhten Plattform, die das Postament des Berghofgeländes bildete. Sie schwiegen. Hans Castorp rauchte. Er haderte innerlich mit Joachim, weil dieser nach Tische nicht an der Geselligkeit auf der Veranda hatte teilnehmen wollen, sondern ihn gegen Wunsch und Willen in die Stille des Gartens genötigt hatte, bevor sie den Liegedienst aufnehmen würden. Das war tyrannisch von Joachim. Genau genommen, waren sie nicht die siamesischen Zwillinge. Sie konnten sich trennen, wenn ihre Neigungen auseinandergingen. Hans Castorp war ja nicht hier, um Joachim Gesellschaft zu leisten, sondern er war selbst Patient. Er schmollte in diesem Sinne, und er konnte es aushalten, zu schmollen, da er Maria Mancini hatte. Die Hände in den Seitentaschen seiner Jacke, die braunbeschuhten Füße von sich gestreckt, hielt er die lange, mattgraue Zigarre, die sich

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