Der Zauberberg
einer gewissen Wirtlichkeit, und die Hütte selbst, an ihrer dem Gebirge zugekehrten Seite, die Hans Castorp aufsuchte, bot wirklich einigen Schutz gegen den Sturm, wenn man sich mit der Schulter gegen die aus Baumstämmen gezimmerte Wand lehnte, da es mit dem Rükken, der langen Schneeschuhe wegen, nicht füglich gehen wollte. Schräg angelehnt stand er, nachdem er den Skistock neben sich in den Schnee gestoßen, die Hände in den Taschen, den Kragen seiner Wolljacke hochgestellt, das äußere Bein als Gegenstütze benutzend, und ließ den taumeligen Schädel mit geschlossenen Augen an der Bohlenwand ruhen, indem er nur dann und wann, der Schulter entlang, über die Schlucht hin zur jenseitigen Bergwand hinüberblinzelte, die manchmal matt im Geschleier sichtbar wurde.
Seine Lage war vergleichsweise behaglich. »So kann ich notfalls die ganze Nacht stehen,« dachte er, »wenn ich von Zeit zu {735} Zeit das Bein wechsle, mich sozusagen auf die andere Seite lege und mir zwischendurch natürlich etwas Bewegung mache, was unerläßlich ist. Wenn auch außen verklammt, habe ich doch innerlich Wärme gesammelt bei der Bewegung, die ich gemacht, und so war die Exkursion doch nicht ganz nutzlos, wenn ich auch umgekommen bin und von der Hütte zur Hütte geschweift … ›Umkommen‹, was ist denn das für ein Ausdruck? Man braucht ihn gar nicht, er ist nicht üblich für das, was mir zugestoßen, ganz willkürlich setze ich ihn dafür ein, weil ich nicht so ganz klar im Kopfe bin; und doch ist es in seiner Art ein richtiges Wort, wie mir scheint … Nur gut, daß ich es aushalten kann, denn das Treiben, das Schneetreiben, das Unfug-treiben, kann gut und gern bis morgen früh währen, und wenn es auch nur bis zum Dunkelwerden währt, so ist das schlimm genug, denn bei Nacht ist die Gefahr des Umkommens, des im Kreise Herumkommens ebenso groß wie beim Schneesturm … Es müßte sogar schon Abend sein, ungefähr sechs, – so viel Zeit, wie ich beim Umkommen vertrödelt habe. Wie spät ist es denn?« Und er sah nach der Uhr, obgleich es den starren Fingern nicht leicht fiel, sie ohne Gefühl aus den Kleidern zu graben, – nach seiner goldenen Springdeckeluhr mit Monogramm, die lebhaft und pflichttreu hier in der wüsten Einsamkeit tickte, ähnlich seinem Herzen, dem rührenden Menschenherzen in der organischen Wärme seiner Brustkammer …
Es war halb fünf. Was Teufel, so viel war es ja beinahe schon gewesen, als das Wetter losgegangen war. Sollte er glauben, daß sein Herumirren kaum eine Viertelstunde gedauert hatte? »Die Zeit ist mir lang geworden«, dachte er. »Das Umkommen ist langweilig, wie es scheint. Aber um fünf oder halb sechs wird es regelrecht dunkel, das bleibt bestehen. Wird es vorher aufhören, rechtzeitig genug, daß ich vor weiterem Umkommen bewahrt bleibe? Darauf könnte ich einen Schluck Portwein nehmen, zu meiner Stärkung.«
{736} Dies dilettantische Getränk hatte er zu sich gesteckt, einzig und allein, weil es auf »Berghof« in flachen Fläschchen bereitgehalten und Ausflüglern verkauft wurde, wobei selbstverständlich nicht an solche gedacht war, die sich unerlaubterweise bei Schnee und Frost im Gebirge verirrten und unter solchen Umständen die Nacht erwarteten. Bei minder herabgesetzten Sinnen hätte er sich sagen müssen, daß es, unter dem Gesichtspunkt des Heimkommens, beinahe das Falscheste war, was er hätte zu sich nehmen können; und das sagte er sich auch, nachdem er einige Schlucke genommen, die sofort eine Wirkung zeitigten, ganz ähnlich derjenigen des Kulmbacher Bieres am Abend seines ersten Tages hier oben, als er durch liederlich unbeherrschte Reden von Fischsaucen und dergleichen mehr bei Settembrini angestoßen hatte, – bei Herrn Lodovico, dem Pädagogen, der sogar die Tollen, die sich gehen ließen, mit seinem Blick zur Vernunft anhielt, und dessen wohllautendes Hörnchen Hans Castorp eben durch die Lüfte vernahm, zum Zeichen, der rednerische Erzieher nähere sich in großen Märschen, um den Schmerzenszögling, das Sorgenkind des Lebens aus seiner tollen Lage zu befreien und heimzuführen … Was selbstverständlich lauter Unsinn war und nur von dem Kulmbacher herrührte, das er aus Versehen getrunken. Denn erstens hatte Herr Settembrini gar kein Hörnchen, sondern nur seine Drehorgel, die auf einem Stelzbein auf dem Pflaster stand, und zu deren geläufigem Spiel er humanistische Augen an den Häusern emporsandte; und zweitens wußte und merkte er gar nichts
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