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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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von dem, was vorging, da er sich nicht mehr im Sanatorium »Berghof«, sondern bei Damenschneider Lukaček in seinem Speicherstübchen mit der Wasserflasche, oberhalb von Naphtas seidener Zelle, befand, – hatte auch gar kein Recht und keine Möglichkeit zum Einschreiten, so wenig wie dermaleinst in der Faschingsnacht, als Hans Castorp sich in ebenso toller und schlimmer Lage befunden, indem er der kranken Clawdia {737} Chauchat son crayon, seinen Bleistift, Pribislav Hippes Bleistift zurückgegeben hatte … Wie war das übrigens mit der »Lage«? Um sich in einer Lage zu befinden, mußte er liegen und nicht stehen, damit das Wort seinen gerechten und ordentlichen Sinn, statt eines bloß metaphorischen, gewänne. Horizontal, das war die Lage, die einem langjährigen Mitgliede Derer hier oben zukam. War er denn nicht daran gewöhnt, bei Schnee und Frost im Freien zu liegen, nachts sowohl wie am Tage? Und er machte Anstalt, sich niedersinken zu lassen, als ihn die Einsicht durchfuhr, ihn sozusagen beim Kragen nahm und aufrecht hielt, daß auch dieses sein Gedankengeschwätz von der »Lage« nur auf Rechnung des Kulmbacher Bieres zu setzen war, nur seiner unpersönlichen, als typisch gefährlich im Buche stehenden Lust zum Liegen und Schlafen entsprang, die ihn mit Sophismen und Wortspielen betören wollte.
    »Da ist ein Mißgriff begangen worden«, erkannte er. »Der Portwein war nicht das Rechte, die wenigen Schlucke haben mir den Kopf ganz übertrieben schwer gemacht, er fällt mir ja auf die Brust, und meine Gedanken sind unklares Zeug und fade Witzeleien, denen ich nicht trauen darf, – nicht nur die ursprünglichen, die mir zuerst einfallen, sondern auch die zweiten, die ich mir kritischerweise über die ersten mache, das ist das Unglück. ›Son crayon‹! Das heißt ›ihr‹ crayon, und nicht seines, in diesem Fall, und man sagt nur ›son‹, weil ›crayon‹ ein Maskulinum ist, alles übrige ist Witzelei. Daß ich mich überhaupt dabei aufhalte! Während zum Beispiel die Tatsache viel vordringlicher ist, daß mein linkes Bein, gegen das ich mich stütze, auffallend an das hölzerne Stelzbein von Settembrinis Drehorgel erinnert, das er immer mit dem Knie vor sich herstößt, über das Pflaster hin, wenn er näher unter das Fenster tritt und den Sammethut hinhält, damit das Mägdlein droben ihm etwas hineinwirft. Und dabei zieht es mich unpersönlicherweise förmlich mit Händen, daß ich mich in den Schnee {738} lege. Dagegen hilft nur Bewegung. Ich muß mir Bewegung machen, zur Strafe für das Kulmbacher und um das Holzbein zu schmeidigen.«
    Er stieß sich mit der Schulter ab. Aber sowie er sich von dem Schuppen löste, einen Schritt nur vorwärts tat, hieb der Wind wie mit Sensen auf ihn ein und trieb ihn an die schützende Wand zurück. Zweifellos war sie der ihm gewiesene Aufenthalt, mit dem er sich vorläufig abzufinden hatte, wobei es ihm freistand, sich zur Abwechselung mit der linken Schulter anzulehnen und sich auf das rechte Bein zu stützen, unter einigem Schlenkern des linken, zu dessen Belebung. Bei einem derartigen Wetter verläßt man das Haus nicht, dachte er. Mäßige Abwechslung ist zulässig, aber keine Neuerungssucht und kein Anbinden mit der Windsbraut. Halte dich still und laß immerhin deinen Kopf hängen, da er nun einmal so schwer ist. Die Wand ist gut, Holzbalken, es scheint eine gewisse Wärme davon auszugehen, soweit hier von Wärme die Rede sein kann, diskrete Eigenwärme des Holzes, möglicherweise mehr Stimmungssache, subjektiv … Ah, die vielen Bäume! Ah, das lebendige Klima der Lebendigen! Wie es duftet! …
    Es war ein Park, der unter ihm lag, unter dem Balkon, auf dem er wohl stand – ein weiter, üppig grünender Park von Laubbäumen, von Ulmen, Platanen, Buchen, Ahorn, Birken, leicht abgestuft in der Färbung ihres vollen, frischen, schimmernden Blätterschmucks und sacht mit den Wipfeln rauschend. Es wehte eine köstliche, feuchte, vom Atem der Bäume balsamierte Luft. Ein warmer Regenschauer zog vorüber, aber der Regen war durchleuchtet. Man sah bis hoch zum Himmel hinauf die Luft mit blankem Wassergeriesel erfüllt. Wie schön! Oh, Heimatodem, Duft und Fülle des Tieflandes, lang entbehrt! Die Luft war voller Vogellaut, voll zierlich-innigem und süßem Flöten, Zwitschern, Girren, Schlagen und Schluchzen, ohne daß eines der Tierchen sichtbar gewesen wäre. Hans Ca {739} storp lächelte, dankbar atmend. Inzwischen aber ließ alles sich noch schöner an.

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