Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
erstens, um hinter dem Sturme Luft zu schöpfen, und dann auch, weil er, geneigten Kopfes aufwärts blinzelnd, nichts sah vor weißer Verfinsterung und sich vor dem Anrennen an Bäume, dem Geworfenwerden durch Hindernisse hüten mußte. Die Flokken flogen ihm massenweise ins Gesicht und schmolzen dort, so daß es erstarrte. Sie flogen ihm in den Mund, wo sie mit schwach wässerigem Geschmack zergingen, flogen gegen seine Lider, die sich krampfhaft schlossen, überschwemmten die Augen und verhinderten jede Ausschau, – die übrigens nutzlos gewesen wäre, da die dichte Verschleierung des Blickfeldes und die Blendung durch all das Weiß den Gesichtssinn ohnedies {728} fast völlig ausschalteten. Es war das Nichts, das weiße, wirbelnde Nichts, worein er blickte, wenn er sich zwang, zu sehen. Und nur zuweilen tauchten gespenstische Schatten der Erscheinungswelt darin auf: ein Latschenbusch, eine Fichtengruppe, die schwache Silhouette des Schobers auch, an dem er kürzlich vorübergekommen.
    Er ließ ihn liegen, suchte über die Halde hin, wo der Schuppen stand, seinen Rückweg. Aber ein Weg war ja nicht vorhanden; eine Richtung zu halten, die ungefähre Richtung nach Hause, ins Tal, war weit mehr Glücks- als Verstandessache, da man allenfalls die Hand vor Augen, aber nicht einmal bis zu den Spitzen seiner Schneeschuhe sah; und hätte man auch besser gesehen, so wären doch immer noch ausgiebige Vorkehrungen getroffen gewesen, ein Vorwärtskommen aufs äußerste zu erschweren: das Gesicht voll Schnee, den Sturm als Widersacher, der die Atmung zerstörte, sie abschnitt, das Aufnehmen von Luft wie den Aushauch verhinderte und jeden Augenblick zu schnappender Abkehr zwang, – da sollte dieser und jener vorwärts kommen, Hans Castorp oder ein anderer, Stärkerer, – man blieb stehen, schnappte, drückte sich blinzelnd das Wasser aus den Wimpern, klopfte den Harnisch von Schnee herunter, der sich einem auf die Frontseite gelegt hatte, und empfand es als unvernünftige Zumutung, unter solchen Umständen vorwärts zu kommen.
    Hans Castorp kam dennoch vorwärts, das heißt: er kam von der Stelle. Allein ob das ein zweckmäßiges Fortkommen, ein Fortkommen in rechter Richtung war, und ob es nicht weniger falsch gewesen wäre, zu bleiben, wo man war (was aber auch nicht tunlich schien), das stand dahin, es sprach sogar die theoretische Wahrscheinlichkeit dagegen, und praktisch genommen schien es Hans Castorp bald, als sei mit dem Grund und Boden nicht alles in Ordnung, als habe er nicht den richtigen unter den Füßen, das heißt die flache Halde, die er von der {729} Schlucht aufsteigend mit großer Mühe wieder gewonnen und die es vor allem wieder zurückzulegen galt. Die Ebene war zu kurz gewesen, er stieg schon wieder. Offenbar hatte der Sturm, der von Südwest, aus der Gegend des Talausgangs kam, mit seinem wütenden Gegendrucke ihn abgedrängt. Es war ein falsches Fortkommen, schon längere Zeit, mit dem er sich abmattete. Blindlings, umhüllt von wirbelnder, weißer Nacht, arbeitete er sich nur tiefer ins Gleichgültig-Bedrohliche hinein.
    »Na, so was!« sagte er zwischen den Zähnen und machte halt. Pathetischer drückte er sich nicht aus, obgleich es ihm einen Augenblick war, als griffe eine eiskalte Hand nach seinem Herzen, so daß es aufzuckte und dann mit so raschen Schlägen gegen seine Rippen pochte wie damals, als Radamanthys die feuchte Stelle bei ihm entdeckt. Denn er sah ein, daß er kein Recht hatte auf große Worte und Gebärden, da Herausforderung sein Teil gewesen und alle Bedenklichkeiten der Lage auf seine eigenste Rechnung kamen. »Nicht schlecht«, sagte er und fühlte, daß seine Gesichtszüge, die Ausdrucksmuskeln seiner Miene, der Seele nicht mehr gehorchten und gar nichts wiederzugeben vermochten, weder Furcht, noch Wut, noch Verachtung, denn sie waren erstarrt. »Was nun? Hier schräg hinunter und fortan hübsch der Nase nach, immer genau gegen den Wind. Das ist zwar leichter gesagt als getan«, fuhr er keuchend und abgerissen, aber tatsächlich halblaut sprechend fort, indem er sich wieder in Bewegung setzte: »aber geschehen muß etwas, ich kann mich nicht hinsetzen und warten, denn dann werde ich zugedeckt von hexagonaler Regelmäßigkeit, und Settembrini, wenn er mit seinem Hörnchen kommt, um nach mir zu sehen, findet mich hier mit Glasaugen hocken, eine Schneemütze schief auf dem Kopf …« Er nahm wahr, daß er mit sich selber sprach, und zwar etwas sonderbar. Darum verwies er es

Weitere Kostenlose Bücher