Der Zauberberg
Ein Regenbogen spannte sich seitwärts über die Landschaft, voll ausgebildet und stark, die reinste Herrlichkeit, feucht schimmernd mit allen seinen Farben, die satt wie Öl ins dichte, blanke Grün herniederflossen. Das war ja wie Musik, wie lauter Harfenklang, mit Flöten untermischt und Geigen. Das Blau und Violett besonders strömten wunderbar. Alles ging zauberisch verschwimmend darin unter, verwandelte, entfaltete sich neu und immer schöner. Es war, wie einmal, manches Jahr war das schon her, als Hans Castorp einen weltberühmten Sänger hatte hören dürfen, einen italienischen Tenor, aus dessen Kehle gnadenvolle Kunst und Kräfte sich über die Herzen der Menschen ergossen hatten. Er hatte einen hohen Ton gehalten, der schön gewesen war gleich am Anfang. Allein allmählig, von Augenblick zu Augenblick, hatte der leidenschaftliche Wohllaut sich geöffnet, sich schwellend aufgetan, sich immer strahlender erhellt. Schleier auf Schleier, den vorher niemand wahrgenommen, war gleichsam davon abgesunken – ein letzter noch, der nun denn doch, so glaubte man, das äußerste und reinste Licht enthüllt hatte, und dann ein aller- und dann ein unwahrscheinlich aberletzter, befreiend einen solchen Überschwang von Glanz und tränenschimmernder Herrlichkeit, daß dumpfe Laute des Entzückens, die fast wie Ein- und Widerspruch geklungen, sich aus der Menge gelöst hatten und ihn selbst, den jungen Hans Castorp, ein Schluchzen angekommen war. So jetzt mit seiner Landschaft, die sich wandelte, sich öffnete in wachsender Verklärung. Bläue schwamm … Die blanken Regenschleier sanken: da lag das Meer – ein Meer, das Südmeer war das, tief-tiefblau, von Silberlichtern blitzend, eine wunderschöne Bucht, dunstig offen an einer Seite, zur Hälfte von immer matter blauenden Bergzügen weit umfaßt, mit Inseln zwischenein, von denen Palmen ragten oder auf denen man kleine, weiße Häuser aus Zypres {740} senhainen leuchten sah. Oh, oh, genug, ganz unverdient, was war denn das für eine Seligkeit von Licht, von tiefer Himmelsreinheit, von sonniger Wasserfrische! Hans Castorp hatte das nie gesehen, nichts dergleichen. Er hatte auf Ferienreisen vom Süden kaum genippt, kannte die rauhe, die blasse See und hing daran mit kindlichen, schwerfälligen Gefühlen, hatte aber das Mittelmeer, Neapel, Sizilien etwa oder Griechenland, niemals erreicht. Dennoch
erinnerte
er sich. Ja, das war eigentümlicherweise ein Wiedererkennen, das er feierte. »Ach, ja, so ist es!« rief es in ihm – als hätte er das blaue Sonnenglück, das sich da vor ihm breitete, insgeheim und vor sich selbst verschwiegen, von je im Herzen getragen: Und dieses »Je« war weit, unendlich weit, so wie das offene Meer zur Linken, dort, wo der Himmel zart veilchenfarben darauf niederging.
Der Horizont lag hoch, die Weite schien zu steigen, was daher kam, daß Hans den Golf von oben sah, aus einiger Höhe: Die Berge griffen um, als Vorgebirge, buschwaldig, in die See tretend, zogen sie sich von der Mitte der Aussicht im Halbkreis bis dorthin, wo er saß, und weiter; es war Bergküste, wo er auf sonnerwärmten steinernen Stufen kauerte; vor ihm fiel das Gestade, moosig-steinig, in Treppenblöcken, mit Gestrüpp, zu einem ebenen Ufer ab, wo zwischen Schilf das Steingeröll blauende Buchten, kleine Häfen, Vorseen bildete. Und dieses sonnige Gebiet, und diese zugänglichen Küstenhöhen, und diese lachenden Felsenbecken, wie auch das Meer hinaus bis zu den Inseln, wo Boote hin und wider fuhren, war weit und breit bevölkert: Menschen, Sonnen- und Meereskinder, regten sich und ruhten überall, verständig-heitere, schöne junge Menschheit, so angenehm zu schauen – Hans Castorps ganzes Herz öffnete sich weit, ja schmerzlich weit und liebend ihrem Anblick.
Jünglinge tummelten Pferde, liefen, die Hand am Halfter, neben ihrem wiehernden, kopfwerfenden Trabe her, zerrten {741} die Bockenden an langem Zügel oder trieben sie, sattellos reitend, mit bloßen Fersen die Flanken der Gäule schlagend, ins Meer hinein, wobei die Muskeln ihrer Rücken unter der goldbraunen Haut in der Sonne spielten und die Rufe, die sie tauschten oder an ihre Tiere richteten, aus irgend einem Grunde bezaubernd klangen. An einer wie ein Bergsee die Ufer spiegelnden Bucht, die weit ins Land trat, war Tanz von Mädchen. Eine, von deren zum Knoten hochgenommenem Nackenhaar besonderer Liebreiz ausging, saß, die Füße in einer Bodenvertiefung und blies auf einer Hirtenflöte, die Augen
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