Der Zauberberg
hörte nicht länger zu, da Joachim zwischendurch geäußert hatte, er glaube bestimmt, Erkältungsfieber zu haben und wisse nicht recht, wie er sich nun verhalten solle, da Erkältungen hier doch nicht »reçu« seien. Die Duellanten waren darüber hinweggegangen, aber Hans Castorp hatte, wie wir zeigten, ein besorgtes Auge auf seinen Vetter und brach auf mit ihm, mitten in einer Replik, indem er es darauf ankommen ließ, ob von dem restlichen Publikum, bestehend aus Ferge und Wehsal, ein hinlänglicher pädagogischer Antrieb zur Fortsetzung des Wettstreits ausgehen werde.
Unterwegs einigte er sich mit Joachim dahin, daß man in Sachen seiner Erkältung und Halsbeschwerden den Dienstweg einschlagen, das heißt also, den Bademeister anstellen wolle, die Oberin zu benachrichtigen, worauf denn für den Leidenden doch wohl etwas geschehen werde. So war es wohlgetan. Noch am Abend, gleich nach dem Diner, klopfte Adriatica bei Joachim, als Hans Castorp gerade bei ihm im Zimmer war, und erkundigte sich kreischend nach den Wünschen und Klagen des jungen Offiziers. »Halsschmerzen? Heiserkeit?« wiederholte sie. »Menschenskind, was machen Sie für Sprünge?« Und sie unternahm den Versuch, ihm durchdringend ins Auge zu blicken, wobei es nicht an Joachim lag, daß ein Ineinander-Ruhen ihrer Blicke mißlang: der ihre war es, der beiseite schweifte. Daß sie es immer wieder versuchte, wenn es ihr nun doch erfahrungsgemäß einmal nicht gegeben war, das Unternehmen durchzuführen! Mit Hilfe einer Art von metallenem Schuhlöffel, den sie aus ihrer Gürteltasche zog, sah sie dem Patienten in den Schlund, wobei Hans Castorp mit der Nachttischlampe leuchten mußte. Während sie, auf den Zehenspitzen stehend, um Joachims Zäpfchen herumspähte, sagte sie:
»Sagen Sie mal, geehrtes Menschenkind, – haben Sie sich schon mal verschluckt?«
{793} Was war nun darauf zu antworten! Im Augenblick, solange sie spähte, war überhaupt keine Möglichkeit, Rede zu stehen; aber auch nachdem sie von ihm abgelassen, blieb guter Rat teuer. Natürlich hatte er sich im Leben schon ein und das andere Mal verschluckt, beim Essen und Trinken; doch das war Menschenlos und konnte bei ihrer Frage nicht wohl gemeint sein. Er sagte: Wieso? Er könne sich an das letzte Mal nicht erinnern.
Na, gut; es sei bloß so ein Einfall von ihr gewesen. Er habe sich also erkältet, sagte sie zum Erstaunen der Vettern, da sonst das Wort Erkältung doch hier im Hause verpönt war. Zur näheren Untersuchung des Halses sei gegebenenfalls des Hofrats Kehlkopfspiegel vonnöten. Sie ließ Formamint zurück bei ihrem Weggang, sowie einen Verbandwickel nebst Guttapercha zu feuchten Umschlägen für die Nacht, und Joachim machte Gebrauch von beidem, meinte auch deutliche Erleichterung zu spüren dank diesen Anwendungen und fuhr also fort damit, zumal seine Heiserkeit sich nicht klären wollte, ja, in den nächsten Tagen noch stärker wurde, obgleich die Halsschmerzen zuweilen fast ganz verschwanden.
Übrigens war sein Erkältungsfieber reine Einbildung gewesen. Der objektive Befund war der gewöhnliche, – eben der, welcher, zusammen mit den Ergebnissen der hofrätlichen Untersuchungen, den ehrliebenden Joachim hier zu einer kleinen Nachkur festhielt, bevor er wieder zur Fahne würde eilen können. Der Oktobertermin war sang- und klanglos vorübergegangen. Niemand verlor ein Wort darüber, weder der Hofrat, noch die Vettern gegeneinander: still und mit niedergeschlagenen Augen gingen sie darüber hinweg. Nach dem, was Behrens bei der Monatsuntersuchung dem seelenkundigen Famulus in die Feder diktierte und was die photographische Platte zeigte, war allzu klar, daß höchstens von einer ganz wilden Abreise hätte die Rede sein können, während es doch {794} diesmal galt, im Dienste hier oben mit eiserner Selbstzucht auszuharren, bis zum Flachlanddienste, zur Eideserfüllung dort unten endgültige Wetterfestigkeit gewonnen wäre.
Dies war die geltende Parole, über die einig zu sein man stillschweigend vorgab. Aber die Wahrheit sah so aus, daß einer vom andern nicht so ganz sicher war, ob er in tiefster Seele an diese Parole glaubte, und wenn man die Augen voreinander niederschlug, so geschah es in diesem Zweifel, und es geschah nicht, ohne daß zuvor die Augen sich
getroffen
hätten. Das aber kam öfters vor seit jenem Kolloquium über die Literatur, während dessen Hans Castorp zum erstenmal das neuartige Licht im Hintergrund von Joachims Augen sowie den eigentümlich
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