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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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sagen.
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    »
Schwätzer. Antworte doch, – dieser Herr Schönredner, dieser Italiener, der das Fest verlassen hat, – was hat er dir vorhin zugerufen?
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    »
Ich habe davon überhaupt nichts verstanden. Ich kümmere mich sehr wenig um diesen Herrn, wenn meine Augen dich sehen. Aber du vergißt … es wäre nicht gar so leicht gewesen, deine gesellschaftliche Bekanntschaft zu machen. Da gab es noch meinen Vetter, mit dem ich zusammen war und der sehr wenig Neigung verspürt, sich hier zu amüsieren: Er denkt an nichts, als an seine Rückkehr ins Flachland, um dort Soldat zu werden.
«
    »
Armer Teufel. Er ist in Wirklichkeit viel kränker, als er weiß. Deinem italienischen Freund geht es übrigens kaum besser.
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    »
Er sagt es selbst. Aber mein Vetter … Ist das wahr? Du erschreckst mich.
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    »
Sehr möglich, daß er sterben wird, wenn er versucht, im Flachland Soldat zu sein.
«
    »
Daß er sterben wird. Der Tod. Schreckliches Wort, nicht? Aber seltsamerweise beeindruckt es mich heute nicht so sehr, dieses Wort. Es war nur so eine übliche Redensart, als ich sagte ›Du erschreckst mich‹. Die Idee des Todes erschreckt mich nicht. Sie läßt mich ruhig. Ich habe kein Mitleid – weder mit meinem guten Joachim noch mit mir selbst, wenn ich höre, daß er vielleicht sterben wird. Wenn es wahr ist, ähnelt sein Zustand in vielem dem meinen und ich finde ihn nicht besonders imposant. Er ist moribund und ich bin verliebt, je nun! – Du hast mit meinem Vetter beim Atelier für Innenphotographien gesprochen, im Wartezimmer, du erinnerst dich.
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    »
Ich erinnere mich ein bißchen.
«
    »
An dem Tag hat Behrens also dein transparentes Porträt gemacht.
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    »
Nun ja.
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    »
Mein Gott. Und hast du es bei dir?
«
    {1093} »
Nein, ich habe es auf meinem Zimmer.
«
    »
Ah, auf deinem Zimmer. Was meines angeht, ich habe es immer in meiner Brieftasche. Willst du, daß ich es dir zeige?
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    »
Tausend Dank. Meine Neugier ist nicht unbezähmbar. Es wird ein sehr unschuldiger Anblick sein.
«
    »
Ich habe dein Außenporträt gesehen. Viel lieber würde ich noch dein Innenporträt sehen, das in deinem Zimmer eingesperrt ist … Laß mich nach etwas anderem fragen! Manchmal besucht dich ein russischer Herr, der im Ort wohnt. Wer ist das? Zu welchem Zweck kommt er, dieser Mann?
«
    »
Du hast eine kuriose Stärke im Spionieren, das gebe ich zu. Wohlan, ich antworte. Ja, das ist ein kranker Landsmann, ein Freund. Ich habe seine Bekanntschaft in einem anderen Badeort gemacht, schon vor einigen Jahren. Unsere Beziehungen? Bitte sehr: wir trinken zusammen Tee, wir rauchen zwei oder drei Papyros, und wir plaudern, wir philosophieren, wir sprechen über den Menschen, Gott, das Leben, die Moral, über tausend Dinge. Da hast du meinen Rechenschaftsbericht. Bist du zufrieden gestellt?
«
    »
Auch über die Moral! Und was habt ihr zum Beispiel im Falle der Moral herausgefunden?
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    »
Die Moral? Das interessiert dich? Nun, uns scheint, daß man die Moral nicht in der Tugend suchen darf, also in der Vernunft, der Zucht, den guten Sitten, dem Anstand, – sondern vielmehr in deren Gegenteil, ich meine: in der Sünde, in der Hingabe an die Gefahr, an das Schädliche und Verzehrende. Uns scheint, daß es moralischer ist, sich zu verlieren und selbst zu verderben [sogar sich umkommen zu lassen], als sich zu bewahren. Die großen Moralisten waren nicht tugendhaft, sondern Abenteurer im Bösen, lasterhafte, große Sünder, die uns lehren, uns christlich vor dem Elend zu neigen. All das muß dir sehr mißfallen, nicht wahr?
«
    Er schwieg. Er saß noch immer wie anfangs, die verschlungenen Füße tief unter seinem knisternden Stuhl, vorgeneigt gegen die Liegende im Papierdreispitz, ihr Crayon zwischen den Fingern, und blickte aus Hans Lorenz Castorps blauen Augen von unten in das Zimmer, das leer geworden war. Zerstoben die Gästeschaft. Das Klavier, in der schräg gegenüber {1094} liegenden Ecke, tönte nur noch leise und abgebrochen, gespielt mit einer Hand von dem mannheimischen Kranken, an dessen Seite die Lehrerin saß und in einem Notenbuch blätterte, das sie auf den Knien hielt. Als das Gespräch zwischen Hans Castorp und Clawdia Chauchat verstummte, hörte der Pianist vollends zu spielen auf und legte auch die Hand, mit der er die Tasten leicht gerührt hatte, in den Schoß, während Fräulein Engelhart fortfuhr, in ihre Noten zu blicken. Die vier von der Fastnachtsgeselligkeit übriggebliebenen Personen saßen unbeweglich. Die

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