Der Zauberer von Linn
Städte nicht vor der Vernichtung hatten schützen können. Zwar würden sie sich den Kopf darüber zerbrechen, wie es möglich war, daß diese hilflosen Wesen ein ganzes Schiff dieser Größe überwältigen konnten, aber der Verlust eines einzigen Schiffes würde sie kaum ernstlich alarmieren.
Was ein einziges Schiff schon fast allein geschafft hatte, das würde eine ganze Flotte ohne große Kraftanstrengung vollenden: die Vernichtung allen Lebens im gesamten Sonnensystem.
Mit dieser düsteren Vision vor Augen begann Clane, die Apparaturen des Kontrollsystems zu studieren. Fast vier Stunden vergingen, bevor er sicher sein konnte, das Schiff innerhalb der irdischen Atmosphäre vorwärts bewegen zu können.
Er lenkte es zu Jerrins Hauptquartier.
Mit einem Beiboot, das die Siegesfahne von Linn schmückte, landete er, und man führte ihn zu dem toten Bruder.
Seine Leiche war erst vor einer knappen Stunde entdeckt worden.
Noch während er auf das erstarrte Gesicht seines Bruders hinabblickte, wußte Lord Clane bereits, daß man Jerrin vergiftet hatte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er trat ein paar Schritte zurück, um die Szene aus größerer Entfernung in sich aufzunehmen.
Die Witwe Lilidel kniete neben der Couch, einen Arm um den Körper des Toten gelegt. Sie schien eher Angst als Trauer zu empfinden, in ihrem Blick lag Berechnung. Die Augen waren tränenlos.
Clane studierte dieses Gesicht mit unverhohlenem Interesse. Er kannte Lilidel nur aus unzähligen Berichten, und er wußte auch von der Gruppe, die diese Frau benützt hatte, um gegen Jerrin zu konspirieren. Mehr als einmal war er versucht gewesen, seinen Bruder vor ihr zu warnen.
Er wunderte sich, daß ihr ältester Sohn, Calaj, sich nicht unter den Anwesenden befand. Vielleicht war er schon auf dem Weg nach Golomb, einer kleinen Stadt außerhalb Linns, wohin sich die Führungsspitzen der Regierung des Reiches zurückgezogen hatten, und vielleicht hatte man den Jungen bereits zum Lordführer ausgerufen.
Eine unangenehme Situation. Bald würde das Gerücht in Umlauf sein, der Lordführer sei ermordet worden. Man würde seine Witwe, Lilidel, des Mordes bezichtigen, doch einige würden auch ihn, Clane, dessen beschuldigen. Auch hatte er in Erfahrung gebracht, daß der edle Jerrin selbst niemals die Absicht hegte, Calaj zu seinem Nachfolger zu ernennen. Das alles konnte zu einem Bürgerkrieg führen.
Jerrins Sekretär, General Marak, berührte Clane am Arm und flüsterte ihm zu:
»Mein Lord, ich habe hier die Abschriften sehr wichtiger Dokumente. Der Lordführer diktierte sie mir kurz vor seinem Tode. Ich möchte schwören, daß die Originale verschwunden sind.«
Eine Minute später las Clane das Testament seines Bruders. Danach las er den Brief, der an ihn persönlich gerichtet war. Er schloß mit dem Satz: »Meine liebe Frau und meine Kinder gebe ich in Deine Obhut, Bruder.«
Clane wandte sich langsam um und sah Lilidel an. Ihre Blicke trafen sich, und in ihren Augen blitzte Haß auf; aber dann senkte sie rasch die Lider und tat ganz so, als sei er nicht mehr vorhanden. Er nahm an, daß sie mit seinem Erscheinen nicht gerechnet hatte.
Es war Zeit für eine Entscheidung. Doch noch zögerte er. Er sah sich im Kreise der hohen Offiziere um, alles Jerrins Männer. Er durchforschte ihre verschlossenen Gesichter, die ihm nicht verrieten, wie sie über die Situation dachten. Ein Bild begann sich in seinem Gehirn zu formen, aber es hatte nichts mit dem zu tun, was in diesem Raum oder auf diesem Planeten geschah. Es war das Bild einer mächtigen Flotte, die von den fernen Sternen kam, um das Expeditionsschiff der Riss zu rächen. Sie würden alles Leben im Sonnensystem auslöschen – während die Menschen auf der Erde ihren kleinlichen Machtkampf ausfochten.
Mit zitternden Fingern faltete er die beiden Dokumente zusammen und schob sie in die Tasche. Dabei dachte er, daß er unbedingt die Originale finden mußte.
Die ganze Tragweite des Geschehens kam ihm plötzlich zu Bewußtsein, und seine ganze bisherige Tätigkeit erschien ihm jetzt wie eine kindische Spielerei.
»Armer Bruder«, murmelte er. »Ich wußte genug, um das hier vielleicht verhindern zu können, ich schäme mich.«
Aber im gleichen Augenblick wußte er auch, daß es sinnlos war, sich in sentimentalen Selbstbeschuldigungen zu ergehen. Das Reich brauchte jetzt einen starken Mann. Ohne überheblich zu sein, erkannte er, daß er der einzige war, der nicht nur sein Volk, sondern
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