Der Zauberspiegel
stellten das Objekt auf den Boden und nahmen die Decke fort. Darunter kam ein Spiegel mit kunstvoll verziertem Rahmen zum Vorschein.
Sie umrundeten den Spiegel, betrachteten die Schnitzereien im Holz und bewunderten das silbrige Glas.
Juliane hielt sich im Hintergrund und versuchte, das Wispern in ihrem Kopf zu ignorieren, das vom Anblick des Spiegels ausgelöst wurde. Er sah haargenau so aus wie der Handspiegel, der sie hergebracht hatte, nur ohne den Handgriff. Und bedeutend größer.
Das Flüstern verstärkte sich, blieb aber unverständlich wie das Summen Abertausender Bienen. Sie begann zu zittern und Angst stieg in ihr auf. Juliane wusste, was geschah, der Spiegel rief nach ihr. So wie damals im Zug. Sie stöhnte leise und trat langsam wie magnetisch angezogen auf den Wandspiegel zu, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte. Die Glasoberfläche schien sich aufzulösen und verwandelte sich in silbernen Nebel.
»Nein«, flüsterte Juliane. »Bitte nicht!«
Ihr Sichtfeld war begrenzt, ihre Augen konnten den Blick nicht von dem Spiegel abwenden, der für sie zu einem Tor in ihre Herkunftswelt wurde.
Sie fühlte die Anwesenheit der anderen, doch keiner schien ihr helfen zu wollen, und dann durchschritt sie den Spiegel.
Um sie herum versank alles im Nebel, ihre Schritte klangen seltsam laut, hallten wie in einem riesigen Saal.
Plötzlich war sie wieder Herrin über ihren Körper und drehte sich um. Sie wollte diese eigenartige Welt hinter dem Spiegel verlassen und sofort wieder zurück nach Goryydon gehen, doch das Glas war nicht länger durchlässig.
Sie schlug an die Scheibe und erkannte dahinter Aran, Kalira, Ranon und Moira, die wie eingefroren dastanden, ehe das Leben in ihre Körper zurückkehrte und sie den Spiegel bewunderten, als wäre nichts geschehen. Entsetzt erfasste sie, dass ihre Freunde nicht gemerkt hatten, was ihr widerfahren war.
»Helft mir«, schrie Juliane, während sie gegen das Glas hämmerte. »Bitte! Kann mich denn keiner sehen oder hören?«
Sie sank auf den Boden und schluchzte. Musste sie nun für alle Zeit an diesem Ort leben? In einer Welt, die nur aus diesem Fenster nach Goryydon und aus Nebel bestand?
»Du bist nicht gefangen«, sagte eine Frauenstimme.
Juliane drehte sich erschrocken um. Hinter ihr stand Moira. Sie lächelte warm, reichte ihr die Hand und half ihr hoch. Die Zauberin deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Dort liegt dein Zuhause, Juliane.«
»Das ist nicht mehr mein Zuhause!« Sie starrte in den Spiegel. »Dort gehöre ich hin!« Starrsinnig legte sie ihre Handflächen gegen die Scheibe.
»Nein, mein Kind«, widersprach Moira. »Deine Aufgabe dort ist erledigt, du musst uns verlassen.«
Juliane musterte Moira voll Misstrauen. »Wie kannst du gleichzeitig hier hinter dem Spiegel und auf der anderen Seite sein?«
»Was du jetzt siehst, ist nicht mein echter Körper. Ich stehe tatsächlich vor dem Spiegel, doch meinen Geist habe ich hierher zu dir geschickt.« Sie lächelte mit einem Anflug von Bedauern. »Magie, verstehst du?«
Juliane blickte erneut durch das Fenster. »Werden sie sich nicht wundern, wo ich plötzlich bin?«
Moira schüttelte den Kopf. »Ich werde es ihnen erklären.«
»Aber ich will nicht zurück! Warum kann ich nicht bei euch in Goryydon bleiben?«
Moiras Miene zeigte den Kummer eines ganzen Lebens. Sie schien mit einem Mal alt. Uralt. »Es geht nicht. Du musst gehen, deine Anwesenheit kann Kloob aus dem Totenreich erwecken. Das ist Magie, die euch angeboren ist. Die Stärke des einen nährt den anderen«, gestand Moira.
»Ihr habt mich beschissen!« Ihre Stimme brach und Tränen stiegen in ihr hoch. Selbst in ihren Ohren klangen ihre folgenden Worte quengelig. »Wieder mal.«
»Vergib mir, Juliane. Es tut mir so unsagbar leid«, erwiderte Moira und streckte bittend ihre Hände aus.
Juliane wich vor ihr zurück und brauchte ihre ganze Willenskraft, um nicht in Tränen auszubrechen und ihr Herz davor zu bewahren, in tausend Stücke zu zerspringen.
»Ich finde einen Weg. Ich verspreche es dir, Juliane. Du kannst zurückkehren und dann wird Kloob keine Macht mehr über dich haben.«
Scheiß auf Kloobs Rückkehr! Scheiß auf die Vernunft, wollte sie schreien, doch da fühlte sie das sachte Streicheln der silbernen Schnur und drehte sich um, musterte Aran, ihre große, ihre einzige Liebe und durch ihr Innerstes fuhr ein Schmerz, tiefer als alles, was sie je empfunden hatte. Wie sollte sie ihn verlassen können? Was würde
Weitere Kostenlose Bücher