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Der Zeitläufer

Der Zeitläufer

Titel: Der Zeitläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donald A. Wollheim
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fragte Mira. Serli blätterte eiligst die Schrift durch.
    »Wir haben schon mal einen Analysator auf ihn eingestellt«, flüsterte ihnen der Mann aus Alberta zu und sah sich dabei vorsichtig um. »Ein Spektroskop. Wir wissen, daß es da etwas gibt oder gegeben hat. Aber leider ist die Aufzeichnung nicht hundertprozentig. Sie ist in hohem Maß verstümmelt oder verzerrt oder so.«
    »Leute, die ihn zu packen und aufzuspießen versuchen«, brummte Laban. »Und du ...«
    »Noch zehn Minuten«, rief ein Mann durch ein Megaphon. »Liebe Freunde, liebe Fremde, bitte Plätze einnehmen.«
    Die Leute von der Büßerkirche stellten sich auf der einen Seite auf und stimmten ein uraltes Kirchenlied an: »Mi-se-ri-cor-di-a, o-ra pro no-bis!«
    Plötzlich war die Atmosphäre spannungsgeladen. Die Luft im großen Zelt war stickig und heiß. Ein Junge vom Bürgermeisterbüro drängte sich durch die Menge und winkte der Gruppe um Laban zu, sie sollten mit ihm kommen, da für die Gäste auf der Gesichtsseite der Erscheinung und etwas erhöht auf einer Estrade Plätze reserviert seien. Vor ihnen stand am Zaungeländer ein Geistlicher der Büßerkirche, der mit einem der Offiziellen aus Alberta stritt, weil dieser ein Aufzeichnungsgerät aufgestellt hatte, das Platz beanspruchte, der ihm fehlte, weil ihm die spezielle Aufgabe zugefallen war, dem Mann John direkt ins Auge zu schauen.
    »Kann er uns denn wirklich sehen?« fragte Mira ihren Onkel.
    »Blinzele mal«, riet ihr Laban. »Und wenn er blinzelt, sieht er eine neue Szene. Phantasmagorien. Blink-blink-blink – weiß Gott, wie lange schon und wie lange noch.«
    »Mi-se-re-re pec-ca-vi«, sangen die büßenden Sünder. Und ein Sopran trillerte dazu viel zu fröhlich: »Wasch ab von uns die rote Sü-hün-de.«
    »Sie glauben nämlich daran, daß sein Sauerstoffkontrollblättchen rot wurde, weil ihre Seelen so sündig sind«, meinte Laban lachend. »Aber leider werden diese sündigen Seelen noch eine ganze Weile so bleiben müssen. John Delgano hat Sauerstoffreserven für fünf Jahrhunderte. Oder besser gesagt: er reicht ihm noch für weitere fünfhundert Jahre. Eine halbe Sekunde pro Jahr, das sind fünfzehn Minuten. Und wir wissen aus den Audio-Aufzeichnungen, daß er mehr oder weniger normal atmet und daß außerdem die Reserve für zwanzig Minuten reichte. Wenn sie so lange leben, wird ihnen die rote Sünde also keinesfalls vor dem Jahr siebenhundert abgewaschen.«
    »Noch fünf Minuten!« meldete der Ausrufer. »Bitte setzen, Leute! Bitte setzen, damit alle etwas sehen können! Bitte, setzen!«
    »Es heißt, man höre seine Stimme durch das Anzugmikrophon«, flüsterte Serli. »Weißt du, was er sagt?«
    »Du hörst in der Hauptsache ein Heulen von zwanzig Perioden«, wisperte Laban zur Antwort. »Die Tonbänder haben etwas aufgezeichnet, das man mühsam als ayt identifiziert hat, das Teil eines alten Wortes sein muß. Ich denke, man wird Jahrhunderte brauchen, um das zu klären.«
    »Ist das vielleicht eine Botschaft oder so?«
    »Wer weiß! Es könnte auch sein, daß es irgendwie Datum oder Haß bedeuten könnte. Manche meinen auch zu spät. Es kann praktisch alles heißen.«
    Im Zelt wurde es allmählich ruhiger. Man hörte leises, gemurmeltes Beten.
    »Warum stellen wir die Uhren nicht nach ihm ein?«
    »Oh, die Zeit verändert sich etwas. Er lebt in der siderischen Zeit, richtet sich also nach den Gestirnen.«
    »Noch eine Minute!«
    Das Getuschel der Leute hörte auf, dafür wurde das gemurmelte Beten lauter. Außerhalb des Zeltes krähte ein Hahn. Der nackte Mittelpunkt sah absolut normal aus. Irgendwo klickte leise ein anderes Aufzeichnungsgerät.
    Lange Sekunden geschah gar nichts.
    Dann war ein ganz leises, fernes Summen zu vernehmen. In diesem Moment nahm Mira an der linken Geländerseite eine Bewegung wahr.
    Das Summen wurde zum Klopfen. Und dann geschah alles auf einmal.
    Geräusch überfiel sie, raste schrill durch die ganze hörbare Lautskala; die Luft knisterte, und etwas rollte und taumelte in den Raum. Es knirschte, röhrte jammernd ...
    Er war da.
    Massiv, riesig – ein riesiger Mann in einem monströsen Anzug, und der Kopf war eine trübe, transparente und bronzefarben schimmernde Kugel, aus der ein menschliches Gesicht schaute, und der offene Mund war ein dunkler Schmierer. Seine Haltung war unmöglich, denn die Beine stemmten sich nach vorn, während der Körper nach rückwärts geworfen wurde und die Arme wie Windmühlenflügel schwangen. Obwohl er in

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