Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zeitsprung

Der Zeitsprung

Titel: Der Zeitsprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inka Loreen Minden
Vom Netzwerk:
Stuhl, der vor seinem Sekretär stand, und stieg hinein. Großmutter schimpfte ihn für seine Unordnung, weil er von seinem Schreibtisch lediglich in sein Bett fiel und sich vom Bett meist direkt zurück zum Tisch begab. Würde Granny ihm nicht Essen ins Zimmer bringen, wäre er wohl eine Bohnenstange.
    In sein Hemd schlüpfte er fahrig, ohne es zuzuknöpfen. Falls sich ein Einbrecher in ihrem Haus herumtrieb, wollte er ihm nicht nackt begegnen. Dann suchte er nach einer Waffe und entschied sich für einen der zahlreichen Kerzenhalter aus Bronze, die auf seinem Sekretär verteilt waren. David zog die abgebrannte Kerze heraus, bevor sich seine Finger um das kühle Metall schlossen.
    Wahrscheinlich war der nächtliche Besucher längst über alle Berge.
    Hoffentlich …
    Mit angehaltenem Atem schlich er zur Tür. Sie stand einen Spaltbreit offen. David hatte sie geschlossen, bevor er zu Bett gegangen war. Ob Granny doch bei ihm gewesen war?
    Bereits als Junge hatte er sich eingebildet, ein Ungeheuer würde durchs Haus schleichen. Er hatte ihm eine F alle stellen wollen, allerdings hatte Großmutter den Eimer Wasser, den er auf Tür und Rahmen gestellt hatte, abbekommen, als sie nach ihm gesehen hatte. Sie hatte ihm gedroht, ihn in einen Gnom zu verwandeln, wenn er nicht sofort aufhörte, über »sein Ungeheuer« zu reden. Heute wusste D avid, dass sie mit der Situation überfordert gewesen war. Granny hatte den Tod ihres Sohnes nie verkraftet, zumal bis heute unklar war, wer die Mörder seiner Eltern waren. Die Polizei hatte die Leichen nie gefunden. Lange Zeit hatte David Angst gehabt, dass der Mann, der brennend davongelaufen war, noch lebte und zu ihnen zurückkehrte, um sie zu töten.
    Sein furchteinflößender Retter – war er wirklich ein geflügeltes Wesen oder hatte David sich die Gestalt eingebildet? Er wusste, dass es neben der Menschenwelt andere Welten gab. Fabelwesen, Mythen … all das existierte. Zumindest hatten Vater und Granny das erzählt. Gesehen hatte David lediglich einen Kobold, der bei Vater im Keller gehaust und ihn manchmal geärgert hatte, bis es Vater zu bunt wurde und er ihn mittels Magie austrieb.
    Ich muss es endlich wissen, ob es mein unbekannter Retter ist, der mich nachts besucht … Entschlossen trat David auf den Flur. Er wollte keine Angst mehr haben. Er war alt genug, sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen.
    Erneut lauschte er und hörte ein Quietschen. Es kam von unten! Dort gab es ein Fenster in der Nähe der Haustür – es war das Fenster vor dem Apfelbaum –, das genau dieses Geräusch verursachte, wenn man es aufschob.
    David rannte so leise er konnte die Holzwendeltreppe ins Erdgeschoss. Seine nackten Füße hinterließen kaum ein Geräusch auf den Stufen; die letzte übersprang er, da sie knarzte. Als er unten ankam, sah er, wie das Fenster von außen geschlossen wurde. Von einer großen Gestalt, die durch den Baum im Schatten verborgen blieb.
    Beim nächsten Wimpernschlag war sie verschwunden.
    Ich bilde mir das nicht ein! Hastig verriegelte David das Fenster, schlüpfte in seine Schuhe, riss den Mantel von der Garderobe und öffnete die Haustür. Zuerst steckte er nur den Kopf hinaus und erkannte eine Gestalt, die in einer Nebenstraße verschwand. Sie trug ebenfalls einen Mantel. Das musste der Einbrecher sein!
    Davids Griff um den Kerzenständer zog sich zu. Hastig sperrte er die Tür ab und folgte dem Unbekannten in die Dunkelheit.

    ***

    Eine halbe Stunde lang hatte er die Gestalt durch London verfolgt. Sie drehte sich ständig um und David hielt genug Abstand, um nicht entdeckt zu werden. Hier gab es keine Laternen, aber der herannahende Morgen sorgte für unheimliches Zwielicht. Es war also weit nach Mitternacht, kurz vor vier Uhr morgens. David hatte sich ordentlich in der Zeit geirrt. Bald würde die Sonne aufgehen, doch dieser Stadtteil schlief noch. Er war wie tot. Ausgestorben.
    Aus dieser Entfernung erkannte er das Gesicht des Fremden nicht und konnte nicht sehen, ob er Reißzähne oder Klauen hatte. Nur verstrubbeltes braunes Haar.
    Wie damals …
    Wild klopfte der Puls in seinen Schläfen. Vielleicht war heute der Tag, an dem sich endlich all seine Fragen klärten. Wer war der Unbekannte? Woher war er am Tag des Überfalls gekommen? Warum hatte er ihn gerettet? Und was hatte er in seinem Haus verloren gehabt?
    Längst wusste David nicht mehr, in welchem Stadtteil er sich befand. Schäbig sah es hier aus. Müll verdreckte die Straßen, streunende

Weitere Kostenlose Bücher