Wenn ich in deine Augen seh (Bianca) (German Edition)
1. KAPITEL
Sie konnte die Story förmlich riechen. Es ging um eine heiße Sache, die ihr zu dem Karrieresprung verhelfen sollte, an dem sie seit zehn Jahren bastelte.
Wirst du dann endlich stolz auf mich sein, Daddy? Siehst du dann ein, dass ich als Journalistin ebenso fähig bin wie Mom?
Sie wünschte es sich sehnlichst.
Rachel Brant hielt in ihrem klapprigen Sunburst an der Kreuzung, die der Bäcker Old Joe ihr beschrieben hatte. Drei verlassene Landstraßen, allesamt endlos, grau und von Bergen aus schmuddeligem Schnee gesäumt, führten aus der Ortschaft Sweet Creek in die Hügel von Montana.
Ihr Ziel, die Ranch Flying Bar T , lag westlich in Richtung der Rocky Mountains.
Behutsam nahm Rachel das zerknitterte vergilbte Foto vom Beifahrersitz. Tom McKee war ein großer kräftiger Mann, wenn auch seit 1970 an den Rollstuhl gefesselt. Ihm war das Purple Heart verliehen worden, eine Auszeichnung für Verwundete, weil er bei einem Rettungsmanöver im Vietnamkrieg beide Beine und den linken Arm verloren hatte.
Der Einsatz namens Hells Field war mehr als drei Jahrzehnte lang unter den Teppich der Militärgeschichte gekehrt worden. Nun wollte Rachel sozusagen den Staub herausklopfen und ihren Vater damit stolz auf sich machen.
Doch nach Auskunft der Einwohner von Sweet Creek kam Tom selten in die Stadt. Sein Sohn Ashford McKee, Mitte dreißig und verwitwet, war ihnen eher bekannt. Er leitete die Flying Bar T und verteidigte die Privatsphäre seiner Familie wie ein Löwe.
Zu Ashford McKee musste sie also zu allererst durchdringen. Man sagte ihm nach, dass er seinem Vater ähnelte. Mächtig wie eine Pinie und schweigsam wie der Wald ‒ so lautete die blumige Umschreibung der Einheimischen.
Und er verteidigte das Tor zur Ranch unerbittlich.
Na, wir werden sehen. Rachel legte das Foto auf den Sitz zurück und fuhr weiter in Richtung der schneebedeckten Berggipfel, die im Sonnenschein glitzerten. Dann mal los zum Einsiedler! Sie war fest entschlossen, ihre Story zu kriegen – auf Biegen und Brechen.
Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich hügelige Felder und umzäunte Weiden unter eisigen weißen Decken.
„Ich hoffe, Sergeant Tom“, murmelte Rachel vor sich hin, „dass Sie jede Sekunde wert sind, die Charlie und ich in diesem elenden Provinznest vor uns hin frieren müssen!“
Seit zehn Tagen hielt sie sich mit ihrem siebenjährigen Sohn in Sweet Creek auf. Zehn lange Tage in einer gottverlassenen Gegend, in der Schnee und eisige Temperaturen das Zepter in der Hand hatten. Die Wärme in Arizona, ihrem vorherigen Aufenthaltsort, war nichts weiter als eine schöne Erinnerung. Es war erst Ende Januar und der Frühling ließ noch lange auf sich warten.
Doch wenn sie diese Story bekam, war es ihr all die Strapazen wert. Tom war der letzte von sieben Vietnamveteranen, den es für eine Artikelserie zu interviewen galt. Sweet Creek sollte die letzte der namenlosen Ortschaften sein, in denen sie und ihr Junge vergeblich versuchten, sich eine Zeitlang wie zu Hause zu fühlen.
War es zu viel erwartet, dass Tom McKee ihr sein Gästehaus vermietete, von dem Old Joe ihr erzählt hatte? Vielleicht. Doch sie gab die Hoffnung nie auf, warum also heute?
Auf einer Weide drängten sich Rinder um Heuballen herum, die auf dem gefrorenen Boden verstreut lagen, während zottelige Pferde in einem Unterstand aus dem Futtertrog mampften.
Eine Viertelmeile voraus bewegte sich eine dunkle wabernde Masse. Bald entpuppte sie sich als Rinderherde der Rasse Black Angus. Begleitet von zwei Reitern, einem Mann in wattierter Militärjacke mit dunkelbraunem Stetson und einer jungen Frau in rotem Parka mit Wollmütze. Zwei schwarz-weiße Border Collies fegten immer wieder über die Straße und trieben jeden Ausreißer zur Herde zurück.
Ungeduldig drückte Rachel auf die Hupe. Vor Schreck verfielen die Nachzügler unter den Rindern in einen schwerfälligen Trott.
Finster starrte der Mann zum Auto. Die Frau – nein, ein Teenager – lächelte.
Rachel kannte das Mädchen von einer Begegnung in der Redaktion der Wochenzeitung Rocky Times , ihrem derzeitigen Arbeitgeber. Es war Daisy McKee, die sich am vergangenen Montag beim Herausgeber vorgestellt hatte, weil sie eine Kolumne über ihre Highschool schreiben wollte.
Ein nettes Mädchen und die Tochter von Ashford McKee, der auf einem riesigen Pferd ritt, das die Farbe von dichten Nebelschwaden hatte. Er wirkte so groß und eindrucksvoll wie die weite unberührte Landschaft um
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