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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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1
    Das erste Mal, nach dem Umzug, war seine Mutter mitgekommen. Wahrscheinlich wollte sie sich den Haarschneider näher ansehen. Als ob der Satz »hinten und an den Seiten kurz, oben etwas ab« hier in diesem neuen Vorort eine andere Bedeutung haben könnte. Er bezweifelte das. Alles andere war offenbar gleich geblieben: der Folterstuhl, der Krankenhausgeruch, der Streichriemen und das zusammengeklappte Rasiermesser – nicht zum Schutz zusammengeklappt, sondern als Drohung. Vor allem war der Foltermeister gleich geblieben, ein Irrer mit riesigen Händen, der dir den Kopf runterdrückte, bis es dir schier die Luftröhre zerriss, der dir mit seinen Bambusfingern ins Ohr stach. »Generalinspektion, gnä’ Frau?«, sagte er schleimig, als er fertig war. Die Mutter schüttelte die Nachwirkungen ihrer Illustrierten ab und stand auf. »Sehr nett«, sagte sie geistesabwesend, wobei sie sich über ihn beugte und nach irgendeinem Zeug roch. »Nächstes Mal schick ich ihn allein her.« Draußen hatte sie ihm über die Wange gestrichen, ihn mit leerem Blick angesehen und gemurmelt: »Du armes geschorenes Lämmchen.«
    Jetzt war er auf sich allein gestellt. Während er an dem Maklerbüro, dem Sportgeschäft und dem Fachwerkhaus mit der Bank vorbeiging, übte er den Spruch: »Hinten und an den Seiten kurz oben etwas ab.« Er sagte das ein dringlich, ohne Komma; man musste die Worte unbe dingt richtig aussprechen, wie bei einem Gebet. In seiner Tasche steckte ein Schilling und Threepence; er stopfte das Taschentuch fester hinein, damit die Münzen nicht herausfielen. Er mochte es nicht, wenn er keine Angst ha ben durfte. Beim Zahnarzt war das einfacher: Da ging die Mutter immer mit, der Zahnarzt tat einem immer weh, aber hinterher gab es ein Bonbon, weil man so tapfer ge wesen war, und wenn man ins Wartezimmer zurückkam, spielte man vor den anderen Patienten den starken Mann. Man war der Stolz seiner Eltern. »An der Front gewesen, Kamerad?«, sagte sein Vater dann. Schmerzen öffneten den Zugang zur Welt der Erwachsenenausdrücke. Der Zahnarzt sagte immer: »Richte deinem Vater aus, du bist kriegsverwendungsfähig. Der versteht das schon.« Also ging er nach Hause, sein Dad fragte: »An der Front gewe sen, Kamerad?«, und er antwortete: »Mister Gordon sagt, ich bin kriegsverwendungsfähig.«
    Fast kam er sich wichtig vor, als beim Hineingehen die Tür so erwachsen gegen seine Hand federte. Doch der Haarschneider nickte nur, deutete mit dem Kamm auf die Reihe hochlehniger Stühle und nahm wieder seine geduckt-stehende Haltung über einem weißhaarigen Alten ein. Gregory setzte sich. Sein Stuhl knarrte. Gregory musste jetzt schon aufs Klo. Neben ihm stand ein Behälter mit Illustrierten, den er nicht zu erkunden wagte. Er guckte starr auf die Hamsternester von Haaren auf dem Fußboden.
    Als er an der Reihe war, schob der Haarschneider ein dickes Gummikissen auf den Sitz. Das wirkte wie eine Beleidigung: Er trug schon seit zehneinhalb Monaten lange Hosen. Aber das war typisch: Du konntest nie sicher sein, welche Regeln hier galten, konntest nie sicher sein, ob alle so gefoltert wurden oder nur du. So wie jetzt: Der Haarschneider wollte ihn mit dem Umhang erdrosseln. Er zog ihn stramm um Gregorys Hals und steckte ihm dann noch ein Tuch in den Kragen. »Was können wir denn für Sie tun, junger Mann?« Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass eine so niederträchtige und hinterlistige Assel, wie Gregory es offenbar war, sich aus den verschiedensten Gründen in seinen Laden verirrt haben könnte.
    Nach kurzem Schweigen sagte Gregory: »Einmal Haare schneiden, bitte.«
    »Da bist du hier richtig, würde ich sagen, meinst du nicht auch?« Der Haarschneider tippte ihm mit dem Kamm auf den Kopf; nicht schmerzhaft, aber auch nicht leicht.
    »Hinten-und-an-den-Seiten-kurz-oben-etwas-ab-bitte.«
    »Allmählich kommen wir auf Trab«, sagte der Haarschneider.
    Knaben nahmen sie nur zu bestimmten Zeiten in der Woche dran. Auf einem Schild stand SAMSTAGVORMITTAG S KEIN E KNABEN. Samstagnachmittag war sowieso geschlos sen, also hätte da genauso gut stehen können SAMSTAG S KEI N E KNABEN. Knaben mussten dann kommen, wenn Män ner nicht wollten. Jedenfalls keine Männer, die arbeiteten. Er ging dann, wenn die anderen Kunden Rentner waren. Es gab drei Haarschneider, alle mittleren Alters, in weißen Kitteln, die abwechselnd Jugend und Alter bedienten. Sie katzbuckelten vor den sich ständig räuspernden alten Knackern, führten

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