Der Zug war pünktlich
Leutnant: »Bedaure Herrn Leutnant sagen zu müssen, daß die Tür bahnseitig verschlossen wurde, weil sie defekt ist; um Unfälle zu verhüten.« Er 24
sagt das vorschriftsmäßig, schnell und demütig, er sagt das fabelhaft wie eine Uhr, die zwölf schlägt. Der Leutnant stößt noch einen wütenden Seufzer aus. »Warum sagen Sie das nicht?« schreit er Andreas zu.
»Bedaure wiederum Herrn Leutnant sagen zu müssen, daß mein Kamerad taub ist, vollkommen taub«, schnurrt der Blonde, »Kopfverletzung.« Die Soldaten hinter dem Leutnant lachen, und der Leutnant wird knallrot, er wendet sich plötzlich ab und versucht, in einem anderen Abteil unterzukommen. Der Schwarm folgt ihm. »Diese dumme Sau«, murmelt der Blonde hinter ihm her.
Ich könnte hier aussteigen, denkt Andreas, der dem bun-ten Treiben auf dem Bahnsteig zusieht. Ich könnte hier aussteigen, irgendwohin gehen, irgendwohin, immer weiter, bis sie mich schnappten, an die Wand stellten, und ich würde nicht zwischen Lemberg und Czernowitz sterben, ich würde in irgendeinem sächsischen Nest niedergeschos-sen oder in einem Konzentrationslager verrecken. Aber ich stehe hier am Fenster und bin wie aus Blei. Ich kann mich nicht bewegen, ich bin ganz starr, dieser Zug gehört zu mir, und ich gehöre zu diesem Zug, der mich meiner Be-stimmung entgegentragen muß, und das Seltsame ist, daß ich gar keine Lust verspüre, hier auszusteigen und am Ufer der Elbe unter diesen reizenden Bäumen spazierenzuge-hen. Ich sehne mich nach Polen, ich sehne mich nach diesem Horizont so sehr, so wild und innig, wie sich nur ein Liebender nach der Geliebten sehnen kann. Wenn doch der Zug abführe, wenn er weiterführe! Warum hier stehenbleiben, warum so lange in diesem gottverfluchten Sachsen stehenbleiben, warum schweigt die sonore Stimme jetzt so lange? Ich bin voll Ungeduld, ich habe keine Angst, das ist das Seltsame, ich habe keine Angst, nur eine 25
namenlose Neugierde und Unruhe. Und doch möchte ich nicht sterben. Ich möchte leben, theoretisch ist das Leben schön, theoretisch ist das Leben herrlich, aber ich möchte nicht aussteigen, seltsam, daß ich aussteigen könnte. Ich brauche nur durch den Gang zu gehen, das lächerliche Ge-päck stehenzulassen und abzuhauen, irgendwohin, unter Bäumen Spazierengehen, unter Herbstbäumen, und ich bleibe hier stehen wie aus Blei, ich will in diesem Zug bleiben, ich sehne mich schrecklich nach der Düsternis Polens und nach dieser unbekannten Strecke zwischen Lemberg und Czernowitz, wo ich sterben muß.
Kurz hinter Dresden wird auch der Unrasierte wieder wach. Sein Gesicht ist sehr fahl unter den Stoppeln, und seine Augen sind unglücklicher noch als zuvor. Er öffnet stumm seine Büchse mit Fleisch und beginnt mit der Gabel brockenweise die Konserve zu essen; dazu nimmt er Brot.
Seine Hände sind schmutzig, und manchmal fallen kleine Brocken Fleisch auf den Boden, wo er nachts wieder schlafen wird, dorthin, wo schon viele Zigarettenkippen liegen und wo sich eine Menge von jenem unpersönlichen Dreck angesammelt hat, der dem Soldaten einfach zuzufliegen scheint. Auch der Blonde ißt. Andreas steht am Fenster und sieht nichts, es ist hell draußen und die Sonne ist noch mild, aber er sieht nichts. Seine Gedanken wimmeln vor der schönen sanften Gartenlandschaft um Dresden. Er wartet ungeduldig darauf, daß der Unrasierte mit seiner Mahlzeit fertig wird, damit er ihn nach der Karte fragen kann. Er hat gar keine Vorstellung von der Strecke zwischen Lemberg und Czernowitz. Nikopol kann er sich vorstellen, auch Lemberg und Przemysl … Odessa und Nikolajew … und Kertsch, aber Czernowitz ist nur ein Name; er denkt an Juden und Zwiebeln, düstere Straßen mit flachdachigen Häu-26
sern, breite Straßen und Spuren altösterreichischer Verwal-tungsgebäude, zerbröckelte k. u. k.-Fassaden in verwilderten Gärten, die vielleicht jetzt Lazarette bergen oder Ver-wundetensammelstellen, und diese reizvollen, schwermütigen östlichen Boulevards mit niedrigen dicken Bäumen, damit die flachdachigen Häuser nicht erdrückt werden von Wipfeln. Keine Wipfel …
So wird Czernowitz sein, aber was dazwischen ist, zwischen Lemberg und Czernowitz, davon hat er keine Vorstellung. Das muß Galizien sein. Lemberg ist ja die Hauptstadt von Galizien. Irgendwo ist da auch Wolhynien, alles dunkle, düstere Namen, die nach Pogrom riechen und schrecklich traurigen riesigen Gütern, auf denen schwermütige Frauen von Ehebrüchen träumen, weil ihre
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