Der Zug war pünktlich
könnte. Viele sind so, daß ein Ding ihnen plötzlich wertvoll wird, weil ein anderer es gerne haben möchte. Ein Ding, das sie im nächsten Augenblick vielleicht wegwerfen würden, wird ihnen kostbar und teuer und unverkäuflich, weil ein anderer es haben und gebrauchen möchte.
Viele sind so, aber der Unrasierte ist nicht so.
»Sicher«, sagt er erstaunt, »das ist doch nichts. Zwanzig Pfennige. Und alt ist sie dazu. Wo mußt du denn hin?«
»Nikopol«, sagt Andreas, und wieder spürt er die scheußliche Leere bei dem Wort, es ist ihm, als habe er den Unrasierten belegen. Er wagt nicht, ihn anzusehen.
»Nun, ehe du da unten bist, ist nichts mehr mit Nikopol, vielleicht Kischinew … weiter nicht.«
»Glaubst du?« fragt Andreas. Auch Kischinew sagt ihm nichts.
»Gewiß. Kolomea schon«, der Unrasierte lacht. »Wie lange fährst du bis unten? Laß mal sehen. Morgen früh Breslau. Morgen abend Przemysl. Donnerstag, Freitag abend, vielleicht früher, weiter. Lemberg. Nun, Samstag abend bin ich in Kolomea, du wirst ein paar Tage noch brauchen, noch ‘ne Woche, wenn du schlau bist, in einer Woche sind sie weg von Nikopol, in ‘ner Woche gibt’s Nikopol für uns nicht mehr.«
Samstag, denkt Andreas. Samstag ist ein ganz sicheres, volles Gefühl. Samstag werde ich noch leben. So nah hat er nicht zu denken gewagt. Jetzt begreift er auch, warum sein Herz schwieg, wenn er in Monaten oder gar in Jahren dachte. Das war ein Sprung, weit, weit übers Ziel hinaus, ein Schuß ins Leere, der ohne Echo war, ins Niemands-land, das es nicht mehr gibt für ihn. Es ist ganz nah, das Ende ist unheimlich nah. Samstag. Ein wildes, köstliches, 30
schmerzliches Vibrieren. Samstag werde ich noch leben, den ganzen Samstag noch. Noch drei Tage. Aber Samstag abend will der Unrasierte doch schon in Kolomea sein, dann müßte ich doch Samstag spät in Czernowitz sein, und es ist doch gar nicht in Czernowitz, zwischen Lemberg und Czernowitz, und nicht Samstag. Sonntag! denkt er plötzlich. Nichts … nicht viel … ein sanftes, sehr, sehr trauriges und Ungewisses Gefühl. Sonntag morgen werde ich sterben zwischen Lemberg und Czernowitz.
Jetzt erst blickt er den Unrasierten an. Er erschrickt vor dessen Gesicht, das unter den schwarzen Stoppeln weiß ist wie Kalk. Und Angst ist in den Augen. Dabei fährt er doch in eine Reparaturwerkstatt und nicht an die Front, denkt Andreas. Warum diese Angst, warum diese Trauer? Das ist kein bloßer Katzenjammer. Jetzt blickt er dem Unrasierten voll in die Augen, er erschrickt noch mehr vor diesem gähnenden Abgrund der Verzweiflung. Das ist nicht nur Angst und Leere, etwas furchtbar Saugendes, und er weiß, warum der saufen muß, saufen muß, um irgend etwas hineinzuschütten in diesen Abgrund …
»Das Komische ist«, sagt der Unrasierte plötzlich mit rauher Stimme, »das Komische ist, daß ich doch Urlaub habe. Urlaub bis nächsten Mittwoch, eine ganze Woche.
Aber ich bin abgehauen. Meine Frau ist … meine Frau«, er würgt an etwas Schrecklichem zwischen Schluchzen und Wut. »Meine Frau«, sagt er, »ist nämlich fremdge-gangen. Ja«, er lacht plötzlich laut, »ja, sie ist fremdge-gangen, Kumpel. Komisch, da ist man durch Europa gezogen, hat da bei einer Französin gepennt und da mit einer Rumänin gehurt und ist in Kiew hinter den Russinnen her-gerannt; und wenn man in Urlaub fuhr und hatte Aufent-halt, da irgendwo in Warschau oder in Krakau, da konntest 31
du den schönen Polinnen auch nicht widerstehen. Es war unmöglich … und … und … und …«, wieder würgt er dieses fürchterliche Gebilde zwischen Schluchzen und Wut hinunter wie Gewölle, »und da kommst du also nach Hause, ganz unverhofft natürlich, nach fünfzehn Monaten, da liegt ein Kerl auf deiner Couch, ein Kerl, ein Russe, ja, ein Russe liegt auf deiner Couch, das Grammophon spielt Tango, und deine Frau hockt in einem roten Pyjama am Tisch und mixt etwas … ja, so war es, genau so. Ich hab ja Schnaps und Liköre genug geschickt … aus Frankreich, aus Ungarn, aus Rußland. Dem Kerl rutscht vor Schrecken die Zigarette in den Schlund, und die Frau schreit wie ein Tier … ich sage dir, wie ein Tier!« Ein Schauder geht über seine massigen Schultern. »Wie ein Tier, sag ich dir, mehr weiß ich nicht.« Andreas blickt erschreckt zurück, nur einen einzigen kurzen Blick. Aber der Blonde kann nichts hören. Er sitzt ruhig da, ganz ruhig, fast gemütlich, und schmiert aus einem sehr sauberen Schraubglas knallrote Marmelade
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