Tausendschön
Die Wiese – ihr Grün und die Blumen – hatte immer schon ihr gehört. Es war nicht allzu schwer gewesen, sich zu einigen; sie hatte sich einfach nur einverstanden erklären müssen, dass ihre Schwester die Dachkammer im Sommerhaus bekam. Sie fand es unbegreiflich, wie die Schwester sich auf einen solchen Tausch hatte einlassen können – eine langweilige Dachkammer gegen eine Wiese –, aber sie hatte nichts gesagt, sonst wäre die Schwester womöglich auf die Idee gekommen, mehr zu fordern.
Die Wiese lag dicht und verwildert jenseits der Grundstücksgrenze. Als sie klein war, hatten ihr einige Pflanzen bis zum Kinn gereicht. Jetzt, da sie älter war, reichten sie ihr nur noch bis zur Taille. Mit leichten Bewegungen und suchendem Blick schritt sie durchs Gras und spürte die Blüten und Blätter an ihren nackten Beinen. Die Blumen mussten schweigend gepflückt werden, sonst würde nichts daraus. Sieben Arten mussten es sein, und sie sollten am Mittsommerabend gepflückt und dann unters Kopfkissen gelegt werden. Dann würde sie ihn sehen, den Mann, den sie heiraten würde.
Das hatte sie zumindest als kleines Mädchen geglaubt, als sie zum allerersten Mal an Mittsommer Blumen gepflückt hatte. Die Schwester hatte sie aufgezogen. » Du willst doch nur Viktor«, hatte sie gesagt und gelacht.
Offensichtlich war ihre Schwester schon damals dumm und naiv gewesen. Natürlich war es überhaupt nicht um Viktor gegangen, sondern um einen ganz anderen. Aber das behielt sie lieber für sich.
Seit jenem ersten Mal wiederholte sie die Prozedur jedes Jahr wieder. Natürlich war sie inzwischen zu groß, um den alten Aberglauben für bare Münze zu nehmen. Trotzdem hielt sie daran fest. Außerdem gab es, wie sie nüchtern feststellen musste, nicht gerade viele Möglichkeiten, sich hier anderweitig zu beschäftigen. Jahr für Jahr bestanden ihre Eltern darauf, Mittsommer auf dem Land zu feiern, und jedes Mal wurde es quälender für sie. Diesmal war sie sogar zum Fest ihrer Freundin Anna eingeladen, deren Eltern ein großes Mittsommerfest feierten, zu dem auch die Freunde ihrer Kinder kommen durften.
Aber ihr Vater erlaubte es nicht.
» Wir feiern, wie wir es immer getan haben«, erklärte er. » Zusammen. Und das gilt, solange du bei uns zu Hause wohnst.«
Sie war verzweifelt. Begriff er denn nicht, wie ungerecht das war? Es würde noch Jahre dauern, bis sie überhaupt darüber nachdenken konnte, von zu Hause auszuziehen. Und das illoyale Verhalten der Schwester machte es auch nicht gerade leichter. Die wurde ohnehin niemals zu irgendwelchen Partys eingeladen und vermisste in der Gesellschaft der Eltern auf dem Lande rein gar nichts. Sie schien sogar die komischen Gäste zu schätzen, die nach Einbruch der Dämmerung aus dem Keller gekrochen kamen und sich zu ihnen setzten, sobald Mama die Jalousien herunterließ, damit niemand hereinschauen konnte.
Sie verabscheute sie. Im Gegensatz zum Rest der Familie brachte sie keine Sympathie für sie auf, und sie taten ihr auch nicht leid. Zerlumpte Menschen, die stanken und keine Verantwortung für ihr eigenes Leben übernahmen. Die nichts weiter taten, als sich in einem Keller im Hinterland herumzudrücken. Die sich mit so lächerlich wenig zufriedengaben.
Sie selbst war nie zufrieden. Niemals.
» Du sollst deinen Nächsten lieben«, pflegte ihr Vater zu sagen.
» Man soll dankbar sein für das, was man hat«, sagte ihre Mutter.
Da hörte sie schon lange nicht mehr hin.
Sie entdeckte ihn, als sie gerade die vierte Blume gepflückt hatte. Er musste irgendeinen Laut von sich gegeben haben, sonst hätte sie seine Gegenwart niemals bemerkt. Sie blickte von der Wiese und den Blumen auf und wurde von der Sonne geblendet. Im Gegenlicht war er nur eine dunkle Silhouette, unmöglich zu erkennen oder vom Alter her einzuordnen.
Sie hielt die Hand über die Augen und sah zu ihm hinüber. Doch, sie kannte ihn. Ein paar Abende zuvor hatte sie ihn vom Küchenfenster aus gesehen, als Papa mit den letzten Gästen spät nach Hause gekommen war. Er war größer als die anderen. Nicht älter, aber größer. Kräftiger. Hatte ein markantes Kinn. Er sah aus wie ein amerikanischer Soldat in irgendeinem Film.
Sie standen sich reglos gegenüber und sahen einander an.
» Du darfst nicht hier draußen sein«, sagte sie schließlich und richtete sich gerade auf.
Sie wusste, dass es sinnlos war. Niemand von denen im Keller hatte jemals Schwedisch gesprochen.
Als er sich nicht rührte und auch
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