Der Zug War Pünktlich
plötzlich von einer schweren Sturzwelle zurückgeschleudert wird in die Flut. Bald! Da ist die Wand, hinter der er nicht mehr sein wird, nicht mehr auf der Erde sein wird.
Krakau, denkt er plötzlich, und nun stockt sein Herz, als habe sich die Vene geknotet und lasse nichts mehr durch. Er ist auf der Spur! Krakau! Nichts! Er geht weiter vor. Przemysl! Nichts! Lemberg! Nichts! Dann versucht er zu rasen: Czernowitz, Jassy, Kischinew, Nikopol! Aber beim letzten Wort spürt er schon, daß das nichts als Schaum ist, Schaum, wie eben der Gedanke: ich werde studieren. Nie mehr, nie mehr wird er Nikopol sehen! Zurück. Jassy! Nein, auch Jassy wird er nicht mehr sehen. Czernowitz wird er nicht mehr sehen. Lemberg! Er wird Lemberg noch sehen, er wird noch lebend nach Lemberg kommen! Ich bin irrsinnig, denkt er, ich bin wahnsinnig, ich müßte
ja zwischen Lemberg und Czernowitz sterben! Welch ein Wahnsinn … er dreht die Gedanken gewaltsam ab und be- ginnt wieder zu rauchen und ins Gesicht der Nacht zu star- ren. Ich bin hysterisch, ich bin verrückt, ich habe zuviel geraucht, nächtelang, tagelang geredet, geredet, nicht ge- schlafen, nicht gegessen, nur geraucht, da soll ein Mensch nicht überschnappen …
Ich muß etwas essen, denkt er, etwas trinken. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. Dieses verfluchte ewige Rauchen! Er beginnt an seiner Tasche zu nesteln, aber während er angestrengt in das Dunkel zu seinen Füßen starrt, um die Schnalle zu finden, und dann in der Tasche zu kramen beginnt, wo Butterbrote und Wäsche, Tabak, Ziga- retten und eine Flasche Schnaps beieinanderliegen, fühlt er eine bleierne, unerbittliche Müdigkeit, die seine Adern ein- fach zustopft … er schläft ein … die offene Tasche zwi- schen seinen Händen, ein Bein links neben einem Gesicht, das er nie gesehen hat, ein Bein rechts über einem Gepäck- stück, und die müden, nun auch schon schmutzigen Hände an seiner Tasche, schläft er ein, den Kopf auf der Brust …
Er wird wach davon, daß ihm jemand auf die Finger tritt. Ein plötzlicher Schmerz, er schlägt die Augen auf; jemand ist hastig an ihm vorbeigegangen, hat ihn in den Rücken gestoßen und auf seine Hände getreten. Er sieht, daß es hell ist, und hört, daß wieder eine sonore Stimme einen Bahnhofsnamen sehr warm ausspricht, und er begreift, daß das Dortmund ist. Der, der diese Nacht hinter ihm ge- raucht und gemurmelt hat, der steigt aus, tritt rücksichtslos und fluchend durch den Flur, dieses unbekannte graue Ge- sicht ist zu Hause. Dortmund. Der neben ihm, auf dessen Gepäck sein rechtes Bein geruht hat, ist wach geworden und hockt augenreibend im kalten Gang. Der links, an
dessen Gesicht sein linker Fuß ruht, schläft noch. Dort- mund. Mädchen mit dampfenden Kannen rennen auf dem Bahnhof umher. Es ist wie immer. Frauen stehen da, die weinen; Mädchen, die sich küssen lassen, Väter … alles wie immer: das ist Wahnsinn.
Aber im Grunde weiß er nur, daß er, sobald er die Au- gen aufschlug, gespürt hat, daß das Bald noch da ist. Der Widerhaken lockt tief in ihm, er hat gepackt und läßt nicht mehr los. Dieses Bald hat ihn ergriffen wie eine Angel, an der er nun zappeln wird, zappeln bis zwischen Lemberg und Czernowitz …
Blitzschnell, in der millionstel Sekunde, in der er er- wachte, hat er gehofft, daß das Bald verschwunden sein würde, wie die Nacht, ein Spuk nach endlosem Geschwätz und endlosem Rauchen. Aber es ist da, unerbittlich da …
Er richtet sich auf, entdeckt die Packtasche, die noch halb geöffnet ist, und stopft ein Hemd, das herausgerutscht ist, wieder hinein. Der rechts von ihm hat ein Fenster ge- öffnet und hält einen Becher hinaus, in den ein mageres, müdes Mädchen Kaffee eingießt. Der Geruch des Kaffees ist fürchterlich, dünne Hitze, die ihm flau im Magen macht; es ist der Geruch der Kaserne, der Kasernenküche, der über ganz Europa verbreitet ist … und der über die ganze Welt verbreitet werden soll. Und doch (so tief sitzen die Wurzeln der Gewohnheit), doch hält auch er seinen Becher hinaus und läßt sich einschenken; diesen grauen Kaffee, der so grau ist wie die Uniform. Er riecht die mat- ten Ausdünstungen des Mädchens, dem man anmerkt, daß es in den Kleidern geschlafen hat, von Zug zu Zug gegan- gen ist in der Nacht, Kaffee geschleppt hat, Kaffee ge- schleppt hat …
Sie riecht penetrant nach diesem gräßlichen Kaffee.
Vielleicht schläft sie ganz nah neben der Kaffeekanne, die auf einem Ofen steht,
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