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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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suchten sie eine Wanze, eine winzige Wanze im Mantel der Nacht,
    diese Finger, und sie werden die Wanze finden …
    Bald. Bald. Bald. Bald. Wann ist Bald? Welch ein furchtbares Wort: Bald. Bald kann in einer Sekunde sein, Bald kann in einem Jahr sein. Bald ist ein furchtbares Wort. Dieses Bald drückt die Zukunft zusammen, es macht sie klein, und es gibt nichts Gewisses, gar nichts Gewisses, es ist die absolute Unsicherheit. Bald ist nichts und Bald ist vieles. Bald ist alles. Bald ist der Tod …
    Bald bin ich tot. Ich werde sterben, bald. Du hast es selbst gesagt, und jemand in dir und jemand außerhalb von dir hat es dir gesagt, daß dieses Bald erfüllt werden wird. Jedenfalls wird dieses Bald im Kriege sein. Das ist etwas Gewisses, wenigstens etwas Festes.
    Wie lange wird noch Krieg sein?
    Es kann noch ein Jahr dauern, ehe im Osten alles end- gültig zusammenbricht, und wenn die Amerikaner im We- sten nicht angreifen und die Engländer, dann dauert es noch zwei Jahre, ehe die Russen am Atlantik sind. Aber sie werden angreifen. Aber alles zusammen wird es aller- mindestens noch ein Jahr dauern, vor Ende 1944 wird der Krieg nicht aus sein. Zu gehorsam, zu feige, zu brav ist dieser ganze Apparat aufgebaut. Die Frist ist also zwi- schen einer Sekunde und einem Jahr. Wie viele Sekunden hat ein Jahr? Bald werde ich sterben, im Kriege noch. Ich werde keinen Frieden mehr kennenlernen. Keinen Frieden. Nichts wird es mehr geben, keine Musik … keine Blumen
    … keine Gedichte … keine menschliche Freude mehr; bald werde ich sterben …
    Dieses Bald ist wie ein Donnerschlag. Dieses kleine Wort ist wie der Funke, der das Gewitter entzündet, und plötzlich ist für eine tausendstel Sekunde die ganze Welt hell unter diesem Wort.
    Der Geruch der Leiber ist wie immer. Der Geruch von Dreck und Staub und Stiefelwichse. Seltsam, wo Soldaten sind, ist Dreck … Die Leichenfinger haben die Wanze …
    Er zündet eine neue Zigarette an. Ich will mir die Zu- kunft vorstellen, denkt er. Vielleicht ist es eine Täuschung, dieses Bald, vielleicht bin ich übermüdet, überreizt, und lasse mich erschrecken. Er versucht, sich vorzustellen, was er tun wird, wenn kein Krieg mehr ist … er wird … er wird … aber da ist eine Wand, über die er nicht weg kann, eine ganz schwarze Wand. Er kann sich nichts vorstellen. Gewiß, er kann sich zwingen, den Satz zu Ende zu den- ken: ich werde studieren … ich werde irgendwo ein Zim- mer haben … mit Büchern … Zigaretten … werde studie- ren … Musik … Gedichte … Blumen. Aber auch, wenn er sich zwingt, den Satz zu Ende zu denken, er weiß, daß das nicht sein wird. Alles das wird nicht sein. Das sind keine Träume, das sind ganz blasse Gedanken, die kein Gewicht haben, kein Blut, keinerlei menschliche Substanz. Die Zu- kunft hat kein Gesicht mehr, sie ist irgendwo abgeschnit- ten, und je mehr er daran denkt, um so mehr fällt ihm ein, wie nahe er diesem Bald ist. Bald werde ich sterben, das ist eine Gewißheit, die zwischen einem Jahr und einer Se- kunde liegt. Es gibt keine Träume mehr …
    Bald. Vielleicht zwei Monate. Er versucht, es sich zeit- lich vorzustellen, und will feststellen, ob die Wand vor den nächsten zwei Monaten steht, diese Wand, die er nicht mehr überschreiten wird. Zwei Monate, das ist Ende No- vember. Aber es gelingt ihm nicht, es zeitlich zu fassen. Zwei Monate, das ist eine Vorstellung, die keine Kraft hat. Er könnte ebensogut sagen: drei Monate oder vier Monate oder sechs, diese Vorstellung erweckt kein Echo. Er denkt: Januar. Aber da ist nirgendwo die Wand. Eine seltsame,
    unruhige Hoffnung wird wach! Mai, denkt er mit einem plötzlichen Sprung. Nichts. Die Wand schweigt. Nirgend- wo ist die Wand. Es ist nichts. Dieses Bald … dieses Bald ist nur ein schrecklicher Spuk … er denkt: November! Nichts! Eine wilde, schreckliche Freude wird lebendig. Januar! Schon der nächste Januar, anderthalb Jahre! An- derthalb Jahre Leben! Nichts! Keine Wand!
    Er seufzt glücklich auf und denkt weiter, und nun rennen die Gedanken über die Zeit hinweg wie über leichte, ganz niedrige Hürden. Januar, Mai, Dezember! Nichts! Und plötzlich spürt er, daß er im Leeren tastet. Es ist kein zeit- licher Begriff, wo die Wand errichtet ist. Die Zeit ist be- langlos. Es gibt keine Zeit mehr. Und doch ist die Hoff- nung noch da. Er hat so schön die Monate übersprungen. Jahre …
    Bald werde ich sterben, und es ist. ihm wie einem Schwimmer, der sich nahe dem Ufer weiß und

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