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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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die in den Tod führen, fällt es wie eine bleierne Welle zurück auf den Sprechenden, der plötzlich die er- schreckende und zugleich berauschende Gewalt alles Schicksalhaften kennenlernt. Den Liebenden und den Sol- daten, den Todgeweihten und denen, die von der kosmi- schen Gewalt des Lebens erfüllt sind, wird manchmal un- versehens diese Kraft gegeben, mit einer plötzlichen Er- leuchtung werden sie beschenkt und belastet … und das Wort sinkt, sinkt in sie hinein.
    Während Andreas sich langsam zurücktastete in das In- nere des Waggons, fiel das Wort bald in ihn hinein wie ein Geschoß, schmerzlos und fast unmerklich durch Fleisch, Gewebe, Zellen, Nerven dringend, bis es endlich irgendwo widerhakte, aufplatzte, eine wilde Wunde riß und Blut verströmen machte … Leben … Schmerz …
    Bald, dachte er, und er spürte, wie er bleich wurde. Da- bei vollführte er das Gewohnte, fast ohne es zu wissen. Er zündete ein Streichholz an, beleuchtete die Haufen liegen- der, hockender und schlafender Soldaten, die über, unter und auf ihren Gepäckstücken herumlagen. Der Geruch von
    kaltem Tabaksqualm war mit dem Geruch von kaltem Schweiß und jenem seltsam staubigen Dreck vermischt, der allen Ansammlungen von Soldaten anhaftet. Die Flamme des erlöschenden Hölzchens zischte noch einmal hell auf, und er entdeckte in diesem letzten Schein, dort, wo der Gang schmäler wurde, einen kleinen freien Platz, dem er nun vorsichtig zustrebte. Er hatte sein Bündel unter den Arm geklemmt, die Mütze in der Hand.
    Bald, dachte er, und der Schrecken saß tief, tief. Schrek- ken und völlige Gewißheit. Nie mehr, dachte er, nie mehr werde ich diesen Bahnhof sehen, nie mehr dieses Gesicht meines Freundes, den ich bis zum letzten Augenblick be- schimpft habe … nie mehr … Bald! Er hatte den Platz er- reicht, legte vorsichtig, um die ringsum Schlafenden nicht zu wecken, seine Tasche auf den Boden, setzte sich dar- auf, so, daß er mit dem Rücken gegen eine Abteiltür leh- nen konnte; dann versuchte er, seine Beine möglichst be- quem unterzubringen; er streckte das linke am Gesicht ei- nes Schlafenden vorbei vorsichtig aus und legte das rechte quer über ein Gepäckstück, das den Rücken eines anderen Schlafenden verdeckte. In dem Abteil in seinem Rücken flammte ein Streichholz auf, und jemand begann stumm im Dunkeln zu rauchen. Er konnte, wenn er sich ein wenig zur Seite wandte, den glühenden Punkt der Zigarette se- hen, und manchmal, wenn der Fremde zog, breitete sich der Schein der Glut über ein unbekanntes Soldatengesicht, grau und müde, mit bitteren Falten schrecklicher Nüch- ternheit.
    Bald, dachte er. Das Rattern des Zuges, alles wie sonst. Der Geruch. Der Wunsch zu rauchen, unbedingt zu rau- chen. Nur nicht schlafen! Am Fenster zogen die finsteren Silhouetten der Stadt vorüber. Irgendwo in der Ferne wa-
    ren Scheinwerfer suchend am Himmel, wie lange Leichen- finger, die den blauen Mantel der Nacht teilten … fern auch Schießen von Abwehrkanonen … und diese lichtlo- sen, stummen, finsteren Häuser. Wann wird dieses Bald sein? Das Blut floß aus seinem Herzen, floß zurück ins Herz, kreiste, kreiste, das Leben kreiste, und dieser Puls- schlag sagte nichts anderes mehr als: Bald! … Er konnte nicht mehr sagen, nicht einmal mehr denken: »Ich will nicht sterben.« Sooft er den Satz bilden wollte, fiel ihm ein: Ich werde sterben … bald …
    Hinter ihm tauchte nun ein zweites graues Gesicht im Schein einer Zigarette auf, und er hörte ein sanftes, sehr müdes Murmeln. Die beiden Unbekannten unterhielten sich.
    »Dresden«, sagte die eine Stimme.
    »Dortmund«, die andere.
    Das Murmeln ging weiter und wurde lebhafter. Dann fluchte eine Stimme, und das Murmeln wurde wieder lei- se; es erlosch, und es war wieder nur eine Zigarette hinter ihm. Es war die zweite Zigarette, und auch diese erlosch wieder, und es war wieder dieses graue Dunkel hinter ihm und neben ihm, und vor ihm die schwarze Nacht mit den unzähligen Häusern, die alle stumm waren, alle schwarz. Nur in der Ferne immer noch diese ganz leisen, unheim- lich langen Leichenfinger der Scheinwerfer, die den Him- mel abtasteten. Es dünkte ihn, als müßten die Gesichter, die zu diesen Fingern gehörten, grinsen, unheimlich grin- sen, zynisch grinsen wie die Gesichter von Wucherern und Betrügern. »Wir kriegen dich«, sagten die schmalen, gro- ßen Münder, die zu diesen Fingern gehörten. »Wir kriegen dich, wir tasten die ganze Nacht durch.« Vielleicht

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