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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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öffnet sich die Tür, und Andreas ist erstaunt über die starre Blässe, die über Olinas Gesicht liegt. Sie hat einen Pelzmantel übergezogen, und eine reizende klei- ne Kappe sitzt auf ihrem schönen losen Haar, und keine Uhr ist mehr an ihrem Arm, denn er trägt seine Stiefel wieder. Die Rechnung ist beglichen. Die Alte lächelt so geheimnisvoll. Ihre Hände sind über dem dürren Leib ge- faltet, und nachdem die Soldaten ihr Gepäck aufgenom- men haben und Andreas die Tür öffnet, sagt sie lächelnd ein einziges Wort: Stryj, sagt sie. Olina hört es nicht mehr, sie ist schon draußen.
    »Auch ich«, sagt Olina leise, als sie nebeneinander in dem Wagen sitzen, »auch ich bin gerichtet. Auch ich habe mein Vaterland verraten, weil ich diese Nacht über bei dir blieb, statt den General auszuhorchen.« Sie nimmt seine Hand und lächelt ihm zu: »Aber vergiß nicht, was ich dir gesagt habe: wohin ich dich auch führen werde, es wird das Leben sein. Ja?«
    »Ja«, sagt Andreas. Die ganze Nacht läuft durch seine Erinnerung wie ein glatter Faden, den er abspult, doch da ist ein Knoten, der ihm keine Ruhe läßt. Stryj, hat die Alte gesagt, und woher kann sie wissen, daß Stryj … er hat doch gar nicht mit ihr darüber gesprochen, und noch we- niger wird Olina dieses Wort erwähnt haben …
    Das also soll die Wirklichkeit sein: Ein vornehm surren- des Auto, dessen sanfter Lichtkegel die namenlose Straße beleuchtet. Bäume und manchmal Häuser, alles vollgeso- gen mit grauer Dunkelheit. Vorne diese beiden Nacken, umkränzt von Unteroffizierslitzen, beide fast gleich, stabi- le deutsche Nacken, und der Zigarettenrauch, der langsam vom Führerstand nach hinten zieht, weil die Scheibe nicht ganz beigedreht ist. Neben ihm der Blonde, der schlum- mert wie ein Kind, das vom Spielen erschöpft ist, und rechts die stetige und sanfte Berührung von Olinas Pelz- mantel, und der glatte Faden der Erinnerung an diese schöne Nacht, der durchgleitet, schneller, immer schneller, und der immer haltmacht an diesem seltsamen Knoten, wo die Alte gesagt hat: Stryj …
    Andreas beugt sich vor, um vorne im Führerstand die sanft erleuchtete Uhr zu sehen, und er sieht, daß es sechs ist, genau sechs. Ein kalter Schrecken fährt durch ihn hin, und er denkt: Gott, Gott, wo habe ich meine Zeit gelassen, nichts habe ich getan, nie habe ich etwas getan, ich muß doch beten, beten für alle, und in diesem Augenblick er- steigt Paul zu Hause die Stufen des Altares und beginnt zu beten: Introibo. Und auch seine Lippen beginnen das Wort zu formen: Introibo.
    Aber nun fährt eine unsichtbare Riesenhand über dieses sanft kriechende Auto, ein furchtbares stilles Wehen, und in diese Stille hinein fragt Willi mit seiner trockenen
    Stimme: »Wohin kutschierst du nun eigentlich, Kumpel?«
    – »Nach Stryj!« sagt eine wesenlose Stimme.
    Und dann wird der Wagen zersägt, von zwei rasenden Messern, die knirschen vor wildem Haß, eins rast von vorne und das andere von hinten in den metallenen Leib, der sich aufbäumt und dreht, erfüllt vom Angstschrei sei- ner Insassen …
    In der folgenden Stille ist nichts mehr zu hören als das inbrünstige Fressen der Flammen.
    Mein Gott, denkt Andreas, sind sie denn alle tot? … und meine Beine … meine Arme, bin ich denn nur noch Kopf
    … ist denn niemand da … ich liege auf dieser nackten Straße, auf meiner Brust liegt das Gewicht der Welt so schwer, daß ich keine Worte finde, zu beten …
    Weine ich denn? denkt er plötzlich, denn er spürt etwas Feuchtes über seine Wangen laufen: Nein, es tropft auf seine Wangen, und in diesem fahlen Dämmer, der noch ohne die gelbe Milde der Sonne ist, sieht er nun, daß Oli- nas Hand über seinem Kopf von einem Bruchstück des Wagens herunterhängt und daß Blut von ihren Händen auf sein Gesicht tropft, und er weiß nicht mehr, daß er selbst nun wirklich zu weinen beginnt …

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