EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
Prolog
Aachen, 12. Oktober 1944
Seitdem er Kriegsgerichtsrat war, wimmelte es in seinem Terminkalender nur so von Einträgen. Richard Kollmann starrte auf die dicht beschriebenen Zeilen unter dem Datum Freitag, 13. Oktober 1944: 10 Uhr Verhandlung Grabosch, Krasinski, Jansen, Mahler.
Wehrmachtsstreifen, die Jagd auf Plünderer machten, hatten die vier jungen Männer aufgegriffen, und in der alten Kaiserstadt Aachen galt das Standrecht.
Die Schreibtischlampe verlieh dem Arbeitszimmer mit ihrem kalten weißen Licht eine unbehagliche Atmosphäre. Trotz der einschläfernden Wärme, die vom Kohleofen ausging, konnte Kollmann ein Frösteln nicht unterdrücken. Seit amerikanische Einheiten den Aachener Stadtwald bombardierten und der Bodenkrieg den deutschen Westen erreicht hatte, litt er unter starken Migräneanfällen.
Er schloss die Lider und rieb sich heftig die Schläfen, aber der dröhnende Schmerz, der ihm zu schaffen machte, konnte nicht einfach wegmassiert werden. Er öffnete die Augen und schenkte sich ein weiteres Glas Rotwein ein.
Auf dem schweren Mahagonischreibtisch stapelten sich die Akten festgenommener Jugendlicher. Er plante, die morgige Gerichtsverhandlung im Eilverfahren mit sofort verkündbarem Urteil zu beenden. Deshalb hatte er die Gerichtsakten der Angeklagten am Vormittag mit größter Sorgfalt studiert.
Durch diese exzellente Vorbereitung würde die Sitzung höchstens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen, und es blieb dann immer noch genügend Zeit, um anschließend zu Fuß zum Hotel Quellenhof zu gehen, in das SS-Reichsführer Himmler um zwölf zu einem kleinen Imbiss geladen hatte.
Der schwere Wein und die Opiattablette, die er vor einer Stunde eingenommen hatte, betäubten allmählich den Kopfschmerz. Ein feines Lächeln umspielte jetzt seine Mundwinkel. Die Burschen unmittelbar nach der Verhandlung von einem Exekutionskommando hinrichten zu lassen wäre eine Überlegung wert und würde ganz sicher Himmlers Stimmung heben. Der Gedanke ließ ihn schaudern. Womöglich brachte es ihm sogar eine Berufung zum Oberlandesgericht ein.
Stille lag über dem feudalen Wohnhaus, das zu den wenigen hochherrschaftlichen Villen gehörte, die bislang von Angriffen verschont geblieben waren. Draußen zogen graue Wolken am fahlen Mond vorbei. Sein Licht sickerte durch die Äste der alten Eiche und warf die Schatten, knöcherne Finger einer alten Frau, auf die Wände des Arbeitszimmers.
Kollmann leerte das Glas mit dem schweren roten Burgunder, löschte das Licht seiner Schreibtischlampe und ging schmunzelnd die Stufen zum Keller hinunter, wo das Vergnügen auf ihn wartete.
***
Am Freitag, den 13. Oktober 1944, einem bewölkten, kühlen Tag, wurden eine Gruppe junger Soldaten und ein vierzehnjähriger Zivilist wie Rinder bei einer Viehauktion ins Kriegsgericht getrieben.
Zur Vernehmung des achtzehnjährigen Grenadiers Maryam Krasinski, eines jungen Mannes mit kindlich weichen Gesichtszügen, erschien auch seine Mutter Dónya. Man hatte ihr gesagt, dies sei eine reine Routineangelegenheit, die schnell über die Bühne gehen werde.
Sie setzte sich in die letzte Reihe des Gerichtssaals, neben ihr der jüngere Sohn Jánosz und eine junge Frau, die in stummer Verzweiflung ein wimmerndes Baby umklammert hielt.
Dónya Krasinski weinte still in sich hinein, und ihre Augen blickten ausdruckslos zu dem erhöhten, langen Tisch. Noch war er verwaist, noch war kein Urteil über Maryam gesprochen. Als das Tribunal den Saal betrat und kalte graue Augen den Raum überblickten, legte sie unwillkürlich die Hand an ihre Kehle und spürte das Flattern ihres Herzschlags.
Kurze Zeit später wurde ihr Sohn Maryam zum Tode verurteilt.
***
Maryam Krasinski blieb gelassen, als Kriegsgerichtsrat Kollmann die Entscheidung des Feld-Kriegsgerichts begründete. In einem rüden Ton und heftig gestikulierend wurde die Vollstreckung der Todesurteile für Montag, den 16. Oktober 1944, durch Erschießung am Katschhof anberaumt.
Für einen Moment starrten sie einander in die Augen, der Richter und sein Opfer. Als hätte jemand einen Vorhang weggerissen. Maryam sah in die eiskalten grauen Augen des kahlköpfigen, korpulenten Verhandlungsleiters, dann musterte er die Beisitzer von Kopf bis Fuß: Hauptmann Kemper und Gefreiter Wilhelms und Oberkriegsgerichtsrat Dr. Specke, der Vertreter der Anklage. Er sah eine unbeschreibliche Leere, Trostlosigkeit jenseits aller Verzweiflung, das Böse in vollendeter Form.
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