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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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1
    Wenn du in Rente gehst, passiert Folgendes: Du hast schlagartig gute Laune. Schon am ersten Tag, was sage ich, schon am Morgen des ersten Tages. Du wachst auf, ohne Wecker, einfach so. Keine tonnenschweren Augenlider, keine Radiostimme, die dir sagt, dass es draußen noch dunkel ist und entweder regnet oder schneit. Dass jetzt gleich ein bisschen Gutelaunemusik kommt, die allen ein bisschen gute Laune machen soll. Und dann kommt Don’t worry, be happy.
    Du wirst das nie wieder hören.
    Außerdem wirst du nie wieder ächzend aufstehen und deine tonnenschweren Augenlider ins Bad schleppen, zu einem Spiegelbild, das dir irgendwie bekannt vorkommt, weil es dich an die Leute erinnert, die dir gleich in der U-Bahn oder im Bus begegnen werden.
    Leute auf dem Weg zur Arbeit.
    Steuerzahler.
    Im Winter sind die Gesichter dieser Leute schmutziggrau wie der Schneematsch auf den Straßen. Im Frühjahr schmilzt der Matsch, die gefrorene Hundescheiße taut auf, alles ist voller Schlaglöcher.
    Nie wieder.
    Du wachst auf, draußen ist es schon seit Stunden hell, das mit der senilen Bettflucht ist ein Gerücht, das mit den steifen Gliedern auch. Hopphopp zum Bäcker, die Sonne scheint, oder auch nicht, das ist ab jetzt egal, weil du ab jetzt Sonne im Herzen hast. Die Verkäuferin mit dem schmutziggrauen Gesicht reicht dir zwei Croissants über den Tresen. Sie hat noch geschätzte vierzig Jahre vor sich, du zwinkerst ihr zu.
    Durchhalten, Schätzchen!
    Spiegeleier mit Speck, Milchkaffee, Schokoladencroissants.
    Das mit dem Altersdiabetes ist ein Gerücht, das mit den Cholesterinwerten auch. Deine Dritten halten bombig, also lass dir nichts einreden von wegen Haferschleim und pürierte Bananen.
    Von wegen einsam: Lass dir nichts einreden.
    Hau rein, und dann nichts wie raus aus dem Haus! Die Welt da draußen ist voller gutgelaunter alter Menschen, die gerade ihre Prothesen erbarmungslos in eine knusprige Scheibe Speck geschlagen haben und jetzt überlegen, was sie heute noch so anstellen werden. Menschen wie du, graue Panther, Millionen davon. Vor der Rente waren sie steuerzahlende Matschgesichter, jetzt sind sie Raubtiere. Immer auf dem Sprung, nie auf der Flucht, immer auf der Jagd nach allem, was Spaß macht, immer im Rudel unterwegs.
    Turbosenioren.
    Best Ager.
    Am Montag Radtour, am Dienstag Kaffeefahrt, am Mittwoch Tanztreff, am Donnerstag Aqua Fitness, am Freitag Nordic Walking, am Samstag Shoppen, am Sonntag Schreibwerkstatt. Internetkurs, Kegelclub, Bastelgruppe. Kulturreisen, Städtereisen, Kreuzfahrten, bleib fit, mach mit, wer rastet, der rostet, wird Zeit, dass Sie mich unterbrechen.
    Doktor Klupp sieht mich schweigend an. Siebte Sitzung.
    In der vierten Sitzung wollte er, dass ich ihm aus meiner Kindheit erzähle. Kann mich nicht erinnern, habe ich gesagt.
    In der fünften Sitzung wollte er, dass ich ihm aus meiner Jugend erzähle. Lange her, habe ich gesagt.
    In der sechsten Sitzung habe ich ihn gefragt, ob ich rauchen darf, weil ich mich dann besser konzentrieren kann bei der Biographiearbeit. Er hat genickt. Dann wollte er, dass ich frei assoziiere. Zum Wort »Nacht«.
    Mondzitroneball, habe ich gesagt und mir eine Zigarette angezündet.
    Heute hat er zu mir gesagt, dass ich ihm irgendetwas aus meinem Leben erzählen soll, egal was. Und dass ich nicht mehr rauchen darf, wenn ich nicht kooperiere.
    Jetzt sieht er mich schweigend an. Seine Augen hinter den Brillengläsern sind rot geädert. Müde Augen, blaue Schatten, seine Hände liegen gefaltet auf dem geschlossenen Notizbuch.
    Â»Das mit den Raubtieren war ein Witz«, sage ich.
    Schweigen.
    Â»Kein guter Witz, zugegeben, aber ein Witz, immerhin.«
    Schweigen.
    Â»Der Rest sollte auch witzig sein, und das hat vielleicht nicht so gut geklappt, aber ich meine: Was erwarten Sie von jemandem, der in U-Haft sitzt?«
    Er schiebt die Hände noch ein bisschen fester ineinander, die Knöchel treten weiß hervor. Ich betrachte diese überaus fein gearbeiteten Hände mit ihren schneeweißen Kuppen und denke an Berggipfel. Ich denke an winzige Gipfelkreuze aus Stecknadeln, die sich Doktor Klupp in den schlaflosen Nächten bastelt, die ich ihm bereite. Vielleicht tut er das, wer weiß, man tut viele seltsame Dinge nachts, wenn man nicht schlafen kann.
    Winzige Gipfelkreuze, winzige Blutstropfen.
    Â»Erzählen Sie«, sagt er und öffnet die Hände, »erzählen Sie

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