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Der Zwergenkrieg

Der Zwergenkrieg

Titel: Der Zwergenkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wenn ihr in dieser Zeit auf keine Feinde stoßt. Der Weg sollte dann sicher sein.«
    »Sicher?«, wiederholte Grimma und runzelte die Stirn. »Ihr wollt mit einem ganzen Volk ausziehen, bevor Ihr überhaupt wisst, wohin Euch der Weg führen wird?«
    »Du verstehst das nicht, Grimma«, sagte Thorhâl kopfschüttelnd. »Du bist eine Kriegerin, eine ganz hervorragende, aber du musst dich nicht mit den Belangen hunderter Untertanen auseinandersetzen. Seit dem Ende der Kämpfe erreichen mich Tag für Tag Bittgesuche von Männern und Frauen, die auf eigene Faust losziehen wollen. Sie alle brennen darauf, den Berg zu verlassen und ihr Glück im Norden zu versuchen. Ich kann sie vertrösten, ein paar Wochen, vielleicht einige Monde. Das Jahr, das ich dir gebe, Grimma, ist mehr, als ich in meinem Herzen gutheißen kann.«
    »Ihr fürchtet einen Aufstand?«, fragte Grimma verblüfft. »Nach all den Jahrhunderten, die sich die Zwerge vom Hohlen Berg den Wünschen der Nibelungenfürsten unterworfen haben, soll gerade jetzt ein Umsturz drohen?«
    Thorhâl lächelte bitter. »Ach, Grimma. Ich beneide dich um deine Gutgläubigkeit. Die Zwerge haben sich nur deshalb so lange in ihr Schicksal gefügt, weil es keinen Ausweg zu geben schien. Aber jetzt ist da plötzlich diese Verheißung eines freien Lebens im Nordland. Plötzlich ist unseren Leuten klargeworden, dass es noch etwas anderes gibt als die Kavernen dieses Berges und die Arbeit am Hort. Ich weiß nicht, wie lange ich das Volk davon abhalten kann, Hals über Kopf von hier fortzulaufen.« Er sah sehr müde aus. Grimma hatte ihn nie zuvor in so düsterer Stimmung erlebt. Von seiner Begeisterung, als er den Entschluss gefasst hatte, Grimma als Kundschafterin auszusenden, war nichts geblieben. Mit einem Mal sah er sich Zwängen ausgesetzt, die er nicht vorausgeahnt hatte.
    »Ein Jahr, Grimma«, setzte er entschlossen hinzu. »Ein einziger Tag länger, und ich muss den Befehl zum Aufbruch geben.«
    So waren sie verblieben, gegen Thorhâls und Grimmas besseres Wissen. In spätestens zwölf Monden mussten Grimma und ihre Männer zurück sein. Der Ernst dieses Ultimatums hatte sich wie eine unaufhaltsame Sanduhr in ihrer Brust verankert, sie trug so schwer daran wie an einem zweiten Herz.
    Natürlich hatten sie auch echte Sanduhren dabei, jeder der beiden Schreiber trug eine in seinem Gepäck. Da es in den Tiefen des Erdreichs nicht möglich war, den Lauf des Mondes zu bestimmen, musste die Zeit auf andere Weise gemessen werden. Jede Uhr lief genau einen Tag und eine Nacht lang, dann musste sie gedreht werden. Es war Aufgabe der Schreiber, darüber Buch zu führen. Nach spätestens hundertachtzig Sandläufen würde Grimma den Befehl zur Umkehr geben.
    Sie hatten eine Strecke von zwanzig Speerwürfen zurückgelegt, als das magische Licht des Hohlen Berges zurückblieb und die Dunkelheit des Tunnels den Trupp wie schwarzer Nebel umschloss. Obwohl die Zwerge in der Finsternis leidlich gut sehen konnten, ordnete Grimma an, die ersten Fackeln zu entzünden, in der Hoffnung, die Helligkeit würde die gedrückte Stimmung heben. Die groben Felsvorsprünge der Tunnelwände warfen zuckende Schatten, und da die Zwerge den gleichmäßigen Schein des Hortes gewohnt waren, erschien ihnen das gelbe Licht der Flammen alsbald fremdartig, sogar beängstigend. Grimma gestand sich ihre erste Fehlentscheidung ein und ließ die Fackeln löschen.
    Fortan zogen sie lichtlos dahin, eingelullt von jahrtausendealter Dunkelheit wie von einem Lied in einer alten, vergessenen Sprache.
    Nach den ersten Tagen ihrer Reise bemerkte Grimma, dass sich das Verhalten der Krieger gegenüber Styrmir wandelte. Aus stillschweigender Ablehnung wurde offene Feindschaft.
    Der Berater des Königs marschierte tagsüber stets einige Schritte von den anderen entfernt, und auch nachts bereitete er sein Lager abseits der Übrigen. Grimma nahm an, dass einige der Männer Bemerkungen gemacht hatten, die Styrmir zu solch einer Vorsichtsmaßnahme veranlasst hatten. Obwohl sie einen Kampf nicht zugelassen hätte, rümpfte sie insgeheim die Nase über Styrmirs Zurückhaltung. Beleidigungen oder Drohungen unter den Kriegern hätten bei jedem anderen zu wüsten Prügeleien geführt. Nicht so bei Styrmir, er war aus anderem Stein gehauen. Er zog sich zurück, sprach nie ein Wort und tat, als stünde er weit über den Rangeleien der Krieger. Grimma aber sah ihm an, wie unglücklich er in Wahrheit war, und sie war sicher, dass er seine

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