Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
beherrscht hatten, beginnen sich nach ihrer Identität zu fragen, die klassische Aufteilung zwischen rechts und links restrukturiert sich (nicht nur der Marxismus gerät in die Krise und besinnt sich neu, im selben Jahrzehnt beginnt auch der selbstkritische Weg der extremen Rechten, auch wenn sich rechts von der extremen Rechten und links von der extremen Linken neue radikale Gruppen bilden), neue lagerübergreifende Initiativen entstehen, von der Ökologie bis zum Engagement in vielerlei Hilfsorganisationen. Zur selben Zeit beginnt in massiver Form die große Migration der Dritten Welt zur Welt des Wohlstands, und es kommt zu den (gewiß nicht friedlichen) Vorläufern der ethnischen Transformation Europas. Der Fall der Berliner Mauer ist das bloß noch symbolische Ereignis, das ein Dezennium epochaler Veränderungen krönt. Und schließlich, ob es gefällt oder nicht, setzt zu Beginn des Jahrzehnts eine gewaltige Revolution ein, deren Auswirkungen für die Zukunft wir gerade erst ahnen: Der Personal Computer tritt auf den Plan.
Kann man ein so entscheidendes Jahrzehnt mit einem bedauernden Lächeln abtun, vielleicht genau jenes, in dem wir vom zwanzigsten zum einundzwanzigsten Jahrhundert übergegangen sind (ob dieses nun schön oder häßlich zu werden verspricht)? Kann man es nur im Licht seiner oberflächlichen Erscheinungsformen und seiner kurzfristigen Moden sehen, als hätten die fünfziger Jahre nicht auch ihr Dolce vita gehabt und die sechziger ihre entfesselten Tänze in psychedelischen Farben? Als würde man von den schrecklichen siebziger Jahren eines Tages nur noch in Erinnerung haben, daß damals die ersten Säle mit roten Lichtern eröffnet wurden?
1997
Erhabener Spiegel
DER WAHREN SPRÜCHE
Verhaltens- und Redeweisen, Manien und Moden
Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
Die Derrick-Serie erfreut sich auch in Italien großer Beliebtheit. Im Licht des gesunden kritischen Menschenverstandes gäbe es keinen Grund, warum sie den Leuten gefallen sollte. Der Protagonist hat einen wäßrigen Blick und das traurige Lächeln eines geborenen Witwers, er trägt Anzüge von der Stange mit grauenvollen Krawatten, und seine Mitstreiter gehen in Lederjacken und Jeans, die nicht einmal richtig verwaschen sind. Die Innendekors stürzen noch den muntersten Possenreißer in unheilbare Betrübnis, und die Außenaufnahmen zeigen das Schlimmste, was Bayern zu bieten hat (dabei gäbe es dort wahrhaftig Besseres zu sehen).
Man könnte nun meinen, zumindest das detektivische Grundmuster der Geschichten sei originell und Derrick erobere sein Publikum durch Proben von außergewöhnlicher Intelligenz. Doch das Grundmuster hat, im Verhältnis zu den Detektivgeschichten von einst, nur eine sehr abgestandene Neuheit, die schon weidlich von der Columbo-Serie ausgeschlachtet worden ist: Das Publikum weiß sofort, wer der Täter ist und wie er die Tat begangen hat. Der Reiz besteht darin, zu sehen, wie der Polizist, der es nicht weiß, den Täter errät und ihn anhand sehr spärlicher Indizien dazu bringt, sich zu verraten.
Aber Columbo (der übrigens nicht schlechter als Derrick gekleidet ist, denn er pflegt einen Schlabberlook avant la lettre) bewegt sich mit seinen proletarischen Manieren in einer Welt schöner, reicher und mächtiger Kalifornier, die ihn wie einen Fußabtreter behandeln (wozu er sie ermuntert), in der Gewißheit, daß es diesem schäbigen Nachkommen zwielichtiger Immigranten nicht gelingen wird, ihre Deckung zu durchbrechen und die Barriere ihrer glänzenden Arroganz einzureißen. Columbo, der es versteht, scharfsinnige Bemerkungen über das zu machen, was für die anderen marginal ist, treibt sie mit psychologischen Tricks von perfider Raffiniertheit in die Enge und bringt sie schließlich zu Fall, indem er gerade ihren Dünkel ausnützt. Die Zuschauer genießen diesen Sieg des Pygmäen über die Elefanten und gehen zu Bett mit dem schönen Gefühl, daß einer, der genauso bescheiden und ehrlich wie sie ist, sie gerächt hat, indem er widerlich reiche, schöne und mächtige Leute bestraft.
Nicht so Derrick. Er hat es fast immer mit Leuten zu tun, die niedriger stehen und schlechter gekleidet sind als er, dazu noch psychisch labil und eingeschüchtert durch einen Vertreter des Gesetzes, wie es bei jedem guten Deutschen vorkommt. Seine Schuldigen sehen so unverschämt schuldig aus, daß sie gewöhnlich sogar von Harry erkannt werden (der offensichtlich ohne vorgängigen Intelligenztest in die
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