Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
nächsten Morgen von einem angeheuerten Spezialisten die dänischen Zeitungen übersetzen lasse. Ich bin zufrieden, daß es Dänemark gibt, und das genügt mir.
Versucht man zu erklären, welche Gefühle ein normaler Mensch für den Fußball empfindet, erntet man häufig Unverständnis. Und so hat ein argentinisches Blatt der Versuchung nicht widerstanden, einen Artikel über mich mit der mir zugeschriebenen Erklärung »Fußball ist eine sexuelle Perversion« zu überschreiben. Ich hatte etwas Diffe-renzierteres gesagt und habe es auch schon bei anderer Gelegenheit dargetan, aber ich will hier noch einmal versuchen, meinesgleichen zu erklären, was ich meinte.
Ich bin der Ansicht, daß ein normaler Mensch, solange er das entsprechende Alter hat, sich in der körperlichen Liebe betätigen sollte, und ich halte das für eine gesunde und schöne Tätigkeit. Sodann gibt es Fälle, in denen man anderen dabei zusieht, wie sie diese schöne Tätigkeit ausüben. Ich denke nicht unbedingt nur an Filme im Rotlichtviertel, es genügt ein normaler Film, in dem man zwei schöne Menschen sieht, die sich anmutig paaren. In den Grenzen des Maßvollen kann das eine befriedigende Erfahrung sein. Schließlich gibt es jene sexuell Verklemmten, die sich erregen, wenn sie jemanden erzählen hören, er habe in Amsterdam gesehen, wie es zwei miteinander trieben. Hier scheint mir die Grenze zur Perversion erreicht (außer in Fällen von offenkundigem Handicap, wenn man gezwungen ist, zu nehmen, was man kriegt).
Ich glaube, beim Fußball ist es ganz ähnlich. Fußballspielen ist eine schöne Sache, und ich bedauere nur, daß ich in meiner Kindheit und Jugend als Meister des Eigentors galt, weshalb ich zu wichtigen Spielen nie zugelassen wurde. Aber man kann auch versuchen, ein bißchen auf der Wiese herumzubolzen, und das ist gut für die Gesundheit. Sodann kommt es vor, daß es elf Freunde gibt, die besser spielen als man selbst, so daß es ziemlich erregend ist, ihnen beim Spielen zuzusehen. Ab und zu widerfährt mir das, und dann genieße ich es, als wäre ich in der Oper. Schließlich gibt es jene Leute, die den ganzen Tag damit verbringen, sich bis zur Gefahr des Herzinfarkts darüber zu ereifern, was in den Zeitungen über Spiele steht, die sie womöglich gar nicht gesehen haben. Und hier scheint mir die Grenze zur Perversion erreicht (außer in Fällen von offenkundigem Handicap, wenn man gezwungen ist, zu nehmen, was man kriegt).
Nun könnte mir jemand entgegenhalten, das gleiche gelte auch, wenn man ins Theater, in die Oper, ins Konzert geht. Ob ich es etwa für eine minderwertige Ersatzhandlung hielte, wenn jemand hingeht, um sich die Musici oder Pavarotti anzuhören oder Vittorio Gassman zu sehen? In einem gewissen Sinne ja, nämlich wenn er niemals versucht hat, selber zu singen, ein Instrument zu spielen, wie dürftig auch immer, oder einen Text aufzusagen, sei’s auch nur in der örtlichen Laienspielgruppe. Ich denke hier nicht an die marxsche Utopie einer befreiten Gesellschaft, in der jedermann Fischer und Jäger ist und so weiter, aber ich denke, wer einmal versucht hat, auch nur eine Okarina zu spielen, kann besser einschätzen, was Pollini tut. Nur wer hin und wieder, sei’s unter der Dusche oder beim Blumengießen, O dolci baci, o languide carezze zu singen versucht (oder auch bloß Eleanor Rigby), kann die außerordentlichen Gaben eines großen Sängers würdigen. Wer nie versucht hat, Für Elise zu klimpern, ist weniger in der Lage, die Darbietung eines großen Pianisten zu genießen. Man muß im Leben auch einmal selber zu singen, zu spielen, zu rezitieren versuchen (womöglich nur mit einem schönen Auftritt beim Betriebsausflug), um besser genießen zu können, was die wirklichen Könner bieten. Und wenn dann jemand käme, der zwar nie in die Oper geht, aber die ganze Woche damit verbringt, die neuesten Kritiken über Pavarotti zu diskutieren, dann würde ich, auch wenn der Fall selten ist, von Perversion sprechen.
Das alles scheinen mir sehr simple Wahrheiten zu sein. Aber es ist ziemlich schwer, sie denen verständlich zu machen, die soviel Zeit mit Diskussionen über Fußball verlieren, daß sie keine Zeit mehr dafür haben, wenigstens sonntags mit ihren Kindern ein bißchen zu bolzen - womöglich unter Hinzuziehung einiger Kinder von anderen. Aber vielleicht bin ja ich hier der Perverse. Reden wir nicht mehr davon. Ich werde sobald wie möglich wieder nach Dänemark fahren.
1994
Die Zigarre als
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