Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
hatte. Aber was soll’s? Die beiden waren das klassische Paar, und es waren ihre luftigen Walzer und ihr hingetupfter Steptanz, die jenen Mythos erschufen, der noch Jahrzehnte später den Fellini von Ginger und Fred faszinieren sollte.
Aber dies ist kein nostalgischer Nachruf. Denn mit Ginger und Fred, den wirklichen, hat sich jenes Modell des Lebens als Schau (oder Show) und der Schau als Leben durchgesetzt, das heute unsere Gesellschaft beherrscht. Auch wenn es die beiden nicht wußten und meinten, bloß ein Musical zu spielen.
Ein Musical ist bekanntlich ein Schauspiel, zuerst auf der Bühne und dann im Kino, bei dem die Personen ein bißchen sprechen und ein bißchen singen. Dies wäre schon Grund genug, um zu sagen, daß Musicals nicht wie das Leben sind, was allerdings auch für die Oper und die Operette gilt.
Das amerikanische Musical hat noch ein weiteres Merkmal: Während die Oper sich kein Gewissen daraus
macht, daß ihre Personen singen anstatt zu sprechen, und es problemlos hinnimmt, daß eine schwindsüchtige kleine Näherin hohe Töne ausstößt, die inkompatibel mit dem Zustand ihrer Lungen sind, will das Musical diese Absonderlichkeit rechtfertigen. Daher ist die Geschichte, die es erzählt, fast immer die einer Handvoll Leute, die dabei sind, ein Musical auf die Beine zu stellen.
Folglich spricht das Musical immer und seinem Wesen nach von sich selbst und ist somit das Modell jenes von den Literaturkritikern für ein postmodernes Phänomen gehaltenen Meta-Romans, in dem die Hauptfigur jemand ist, der gerade einen Roman schreibt, gewöhnlich den, den der Leser gerade liest.
Damit unterstellt das Musical jedoch bereits, daß das Leben ein Schauspiel ist, denn die Nöte und Mißgeschicke, die seine Protagonisten erleiden, betreffen die gewaltige und heroische Aufgabe, ein Schauspiel auf die Bühne zu bringen. Den Abend der triumphalen Premiere zu erreichen ist für Ginger und Fred so etwas wie für Achill der Sieg über Hektor oder für Odysseus die Eroberung Trojas. Als Leute, die sich ständig unmerklich auf der Grenze zwischen Schauspiel und Leben bewegen, wissen die Personen des Musicals nie, wann sie leben und wann sie schauspielern.
Das erklärt, warum Fred Astaire sich zu jedem galanten Rendezvous im Frack begibt und warum, wenn er Ginger in einem realistischen Film an den Bettpfosten festbinden müßte (oder sie ihn - und beide wild übereinander herfallen müßten, wie es ihnen ihr basic instinct geböte), er statt dessen mit ihr auf der Terrasse tanzt. Singend. Und subli-mierend.
Die Größe und Grazie von Ginger und Fred lagen darin, daß sie, während sie sich lächelnd sagten, daß das Leben ein Schauspiel ist, stets in den Grenzen des Schauspiels blieben, ohne ins Leben überzugreifen. Womit ich meine:
Fred Astaire ist es nie in den Sinn gekommen, für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu kandidieren, bloß weil er so unnachahmlich steppen konnte.
Entgegen der Absicht des göttlichen Paars hat seine Lektion jedoch recht andere Folgen gehabt. Was wir heute »Schau-Politik« nennen, ist nichts anderes als eine langsame Transformation des Grundprinzips, nach dem das Musical funktioniert. Bedenken wir nur, daß auch bei der hitzigsten politischen Diskussion im Fernsehen das Thema nicht mehr heißt: »Wie soll das Land regiert werden?«, sondern: »Wie inszeniert man eine gute politische Diskussion?« Diskutiert wird über die Regeln der Diskussion und über die möglichst gleiche Verteilung der Chancen.
Der Moderator bemüht sich zu zeigen, wie er unter Verwendung der raffiniertesten Techniken eine gute Diskussion moderiert. Tags darauf geben die Zeitungen ihre Urteile ab, sowohl über die Diskussion im ganzen wie über die einzelnen Tanzschritte der Diskutanten.
Während man früher einerseits lebte und Politik machte und andererseits ins Theater oder ins Kino ging, um denen zuzusehen, die einander Ohrfeigen gaben, macht man heute Politik, indem man einander Ohrfeigen gibt und auf den Beifall derer hofft, die in der Absicht, am politischen Leben teilzunehmen, vor der Mattscheibe hocken und denen zusehen, die einander Ohrfeigen geben.
Dies erklärt auch, warum das Repertoire der Politiker auf ein paar Grundformeln und starre Gedanken reduziert ist, und warum, nach dem Muster des Musicals, das Spiel der Mißverständnisse und Verwechslungen dominiert. Ginger glaubte immer, daß Fred ein anderer sei, und Fred, daß sie einen anderen liebe; beide taten alles, um das
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