Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
der sich einen Smaragdring vom Finger streift und ihn uns überreicht.
    Deswegen raucht man in besseren Kreisen Zigarren. Sie sind das Mittel zur Ruinierung der Gesundheit, durch welches sich hochgestellte Selbstmorde auszeichnen, sie bringen einem den Tod nicht billig wie die Zigaretten der Armen. Infolgedessen werden sie von der Gesellschaft toleriert und im Innersten gebilligt.
    Ach ja, ich vergaß noch eins zu erwähnen, etwas, das in Amerika so normal ist, daß es niemandem auffällt: Im Zentrum des Kampfes gegen das Rauchen, in den ebenso puritanischen wie hygienebewußten Vereinigten Staaten, dem Land, das als erstes die unheil schwangere Warnung des Gesundheitsministers auf die Zigarettenschachteln drucken ließ - in diesem Land werden die Zigaretten in den Apotheken verkauft.
    1996
Warum gibt es Demonstrationen gegen Sex mit Kindern? Eine nicht zu unterschätzende Botschaft
    Letzte Woche schrieb ich, daß jedes gesellschaftliche Verhalten interpretiert werden muß, erst recht aber jene Verhaltensweisen, die eindeutig Botschaften sind, wie in den Moden, wo jemand, der sich einen Smoking anzieht, das nicht tut, um sich vor der Kälte zu schützen, sondern um den anderen eine bestimmte Absicht mitzuteilen. Ebenso kann man sagen (darüber ist lange in den Jahren der »bleiernen Zeit« diskutiert worden, und mit den jüngsten Attentaten in Frankreich wird es wieder aktuell), wenn jemand irgendwo eine Bombe legt, tut er das nicht, um zufällig vorbeikommende Passanten zu töten, sondern um jemandem eine Warnung zukommen zu lassen. Mit anderen Worten - so sehr es uns schaudern lassen mag, daß zum Schreiben von Botschaften menschliches Blut wie Tinte benutzt wird -, bestimmte Verhaltensweisen sind kommunikative Akte und müssen als solche gelesen werden. Andere, zum Glück unblutige, sind zugleich Botschaften (die Leute wollen etwas ausdrücken) und Symptome (indem sie es so und nicht anders ausdrücken, wollen sie uns etwas zu verstehen geben).
    Vor zwei Wochen gab es in Genua einen Marsch gegen sexuellen Mißbrauch von Kindern, eine Demonstration, die vor einiger Zeit auch in Belgien stattgefunden hatte. Was bedeutet das? Stellen wir gleich klar, daß Sex mit Kindern für jeden normalen Menschen etwas sehr Übles ist, und dieses Urteil soll hier nicht in Frage gestellt werden. Daß es nur für unsere heutige Zivilisation gilt und für die klassischen Griechen durchaus nicht so selbstverständlich war, ist eine andere Sache. Es hat Gesellschaften gegeben, die den Kannibalismus gerechtfertigt und ermutigt haben, aber unsere moderne Zivilisation verurteilt ihn, und wir alle sind damit einverstanden.
    Was bedeutet es, massenhaft auf die Straße zu gehen, um gegen ein Verbrechen zu demonstrieren, das die Gesellschaft einmütig verurteilt? Anders gefragt, welche Bedeutung hätte eine Demonstration gegen Sexualmord, gegen Muttermord, gegen Kindesmord? Sie würde recht seltsam erscheinen, man demonstriert schließlich, um für etwas einzutreten, was die Mehrheit der anderen nicht anerkennt, also zum Beispiel für die Rechte einer Minderheit, für angemessene Renten oder gegen die Arbeitslosigkeit, aber eben weil man der Meinung ist, daß diese Rechte gewöhnlich mit Duldung der öffentlichen Gewalten verletzt werden.
    Mag sein, daß der Marsch in Belgien einen Sinn hatte, weil man der Ansicht war, daß es dort eine Verantwortung oder zu geringe Überwachung seitens der Regierung gab. Aber hat es einen Sinn, gegen Sex mit Kindern in Italien zu demonstrieren, wo mir scheint, daß die öffentliche Gewalt das Verbrechen im allgemeinen verurteilt und bestraft und wo man (abgesehen von unkontrollierbarem Geschwätz) der politischen Klasse kaum vorwerfen kann, daß sie Kinderpornographie begünstigt?
    Man wird sagen, es sei eine Demonstration der Solidarität mit den Eltern der Opfer gewesen, als welche sie auch empfunden wurde, und sicherlich gab sie sehr ehrenwerten Gefühlen Ausdruck. Aber wenn dem so wäre, gäbe es dann nicht noch viele andere Fälle, in denen wir zur Mobilisierung aufrufen müßten - gegen Diebstahl, gegen Ausbeutung, gegen die Droge, gegen zahllose Verhaltensweisen, die alle verurteilen?
    Das Symptom ist interessant, und ich neige zu folgender Interpretation. Die großen Utopien sind zusammengebrochen (man demonstriert nicht mehr für eine künftige Revolution oder gegen ungerechte Kriege), aber der soziale Körper hat das Bedürfnis, sich in bestimmten Schlachten einig zu fühlen, Brüderlichkeiten zu

Weitere Kostenlose Bücher