Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
entdecken, sich als aktiv Handelnder im gemeinschaftlichen Leben zu empfinden. Jedesmal wenn ein Thema aufkommt, das die allgemeine Sensibilität berührt (und der Abscheu vor sexuellem Mißbrauch von Kindern ist sicher ein solches), ergreift der soziale Körper die Gelegenheit, sich zu Wort zu melden, und jeder fühlt sich mit den anderen solidarisch -ja, im Unterschied zu den politischen Demonstrationen von einst fühlen sich alle jenseits der Ideologien und Religionen einig über ein moralisches Thema, über das man nicht diskutiert.
So bezeugen diese öffentlichen Paraden einerseits das tiefe Verlangen vieler, eine Einheit wiederzufinden, besonders in einem Moment, in dem das politische Leben mehr als gewöhnlich vergiftet erscheint, und diese Demonstrationen besagen: »Hört auf, euch über Fragen zu zerfleischen, die letztlich nur Kleinigkeiten sind, und einigt euch über die großen Themen!« Andererseits demonstrieren sie das kollektive Bedürfnis, da, wo es heute so schwierig erscheint, sich auf der einen oder anderen Seite einzureihen, das Wort zu ergreifen und die Stimme der Bürger hören zu lassen, nicht über Fragen der Klasse, des Berufsstands, der Gruppe oder der Konfession, sondern über solche, in denen sich der ganze soziale Körper einig sein sollte.
In diesem Sinne sind solche Demonstrationen, die scheinbar nur von Gefühlsreaktionen diktiert werden, wobei die Gefühle derart verallgemeinert sind, daß sie scheinbar wirkungslos bleiben, als Symptome nicht zu unterschätzen, denn sie sagen uns etwas über das Bedürfnis der Menschen, sich in der Lösung gemeinsamer Probleme zusammenzufinden. Eine Botschaft, die sich die politische Klasse aufmerksam anhören sollte.
1996
Grundzüge einer Stadtpsychologie: Dresden
Ich komme gerade aus Dresden zurück. Dresden ist eine Stadt, die alle Gründe hätte, sich zu beklagen. Glänzende Hauptstadt Sachsens, von Herder als »Florenz des Nordens« bezeichnet, in einer romantischen Landschaft erster Klasse gelegen, wurde sie drei Monate vor der Kapitulation Hitlerdeutschlands dem gnadenlosesten konventionellen Bombardement des ganzen Weltkriegs unterzogen. Ausradiert, und das ohne zwingende Gründe; man wußte bereits, daß die Russen bald da sein würden, und das »Dritte Reich« lag schon am Boden. Das geben inzwischen auch die Anglo-Amerikaner zu, die nicht aufhören, Gewissensbisse und Solidarität zu bekunden.
Aber die Stadt hat, ohne zu vergessen, ihre Trauer ohne Gejammer, ohne Opfergetue und, man möchte fast sagen: ohne Groll getragen. Die Dresdner gehen davon aus, daß man die Geschichte kennt, und zeigen dem Besucher stolz die wieder aufgebauten Paläste, die Türme, die Kirchen, die unglaubliche Pinakothek, sie sagen ihm, wie weit im Jahre 2006, zur Achthundertjahrfeier der Stadt, alles wieder hergerichtet sein wird; sogar die scheußlichen Bauten, die nach dem Krieg schnell hochgezogen worden sind, werden bis dahin ersetzt sein, und die Barockfassaden, die Bellotto so genau auf seinen Bildern festgehalten hat, werden restauriert sein (Bellotto hatte kein so feines Gespür für die Ungreifbarkeit der Atmosphäre wie sein Onkel Canaletto, aber er war von einem glasklaren Realismus, der es erlaubt hat, auch die Altstadt von Warschau wieder aufzubauen).
Die Dresdner fragen einen gar nicht, ob einem die Stadt gefällt. Sie sagen es einem. Das bringt mich auf den Gedanken, daß man die Städte normalerweise in zwei Kategorien einteilen kann: in die selbstsicheren und die anderen. Ich werde hier nur einige der selbstsicheren beim Namen nennen, möchte jedoch betonen, daß unter den anderen auch Hauptstädte sind.
In den selbstsicheren Städten kommt es den Leuten gar nicht in den Sinn, den Besucher zu fragen, wie er ihre Stadt findet. Einige verkaufen schamlos ihren Mythos (»Paris, la ville lumière« - »Quanto sei bella Roma« -»New York, New York«), aber sie verlangen keine Konsensbekundungen. Sie setzen stillschweigend voraus, daß man überwältigt ist, und wenn nicht, hat man eben Pech gehabt. Andere, zum Beispiel London, Mailand oder Amsterdam, legen einem zwar den Prospekt oder den Führer mit den Sehenswürdigkeiten ins Hotelzimmer, reden aber nicht viel von sich und sind jedenfalls nicht an den Meinungen ihrer Besucher interessiert. Eine Kategorie für sich sind die Bewohner von Buenos Aires: Spät in der Nacht befragen sie sich und einander nach der argentinischen Identität, aber das ist ein nationales Spiel; daß »Buenos Aires
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