Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
Niederlassungen zu disziplinieren, dann wird das römische Bürgerrecht auf alle Untertanen des Reiches ausgedehnt, aber am Ende bilden sich auf den Ruinen des Römertums die sogenannten römisch-barbarischen Reiche, das heißt die Keimzellen unserer heutigen europäischen Länder, unserer Sprachen, unserer politischen und sozialen Institutionen. Wenn wir an den Autobahnen rings um Mailand auf Ortsnamen wie Usmate, Biandrate und Agonate stoßen, dann haben wir es mit langobardischen Namensformen zu tun. Und woher kommt wohl übrigens jenes etruskische Lächeln, das wir noch heute auf vielen Gesichtern in Mittelitalien finden?
Die großen Wanderungen hören nicht auf. Was sich da vor unseren Augen abzeichnet, ist einfach eine neue Phase der afro-europäischen Kultur.
1990
Krieg, Gewalt und Gerechtigkeit
Gibt es einen gerechten Krieg? Über dieser Streitfrage, die seit zwei Wochen die Gemüter erhitzt, liegt der Schatten eines Mißverständnisses; es ist, als diskutierte man darüber, ob zwei parallele Geraden schwerer sind als eine Quadratwurzel. Ich versuche zu begreifen, was an der Frage nicht funktioniert, und stelle sie anders: Angenommen, Gewalt ist grundsätzlich böse, gibt es dann Fälle, in denen eine gewaltsame Reaktion zu rechtfertigen ist? Man beachte, daß zu rechtfertigen nicht gerecht und gut heißt. Es liegt etwas biologisch Ungerechtes darin, jemandem ein Bein abzuschneiden, aber im Falle von Krebs läßt es sich rechtfertigen.
Auch die Verfechter der Gewaltlosigkeit anerkennen, daß es zu rechtfertigende Arten von Gewalt gibt; selbst Jesus hat auf das Ärgernis der Händler im Tempel ziemlich brüsk reagiert. Nicht nur die Offenbarungsreligionen, auch die natürliche Moral sagt uns, wenn jemand uns oder unsere Lieben oder irgendeine unschuldige und wehrlose Person angreift, ist es nur natürlich, mit Gewalt zu regieren, bis die Gefahr beseitigt ist. Wenn man die Resistenza, also den bewaffneten Partisanenkampf gegen die Nazifaschisten, als Musterfall einer »gerechten Gewalt« hinstellt, will man damit sagen, daß angesichts des Druckes, der durch die Gewalt anderer ausgeübt wird, angesichts einer unerträglichen Tyrannei die Rebellion eines Volkes gerechtfertigt ist. Um keinen Raum für Zweifel zu lassen: Es ist gerechtfertigt, wenn die internationale Gemeinschaft auf die Aggressivität eines Diktators mit Gewalt reagiert.
Das Problem entsteht angesichts des Wortes »Krieg«. Mit ihm verhält es sich wie mit dem Wort »Atom«: Die griechische Philosophie benutzte es, und die zeitgenössische Physik benutzt es ebenfalls, aber es hat zwei verschiedene Bedeutungen: einst bezeichnete »Atom« eine unteilbare Korpuskel, und heute bezeichnet es ein Ensemble von Teilchen. Wer Demokrit in Begriffen der Atomphysik lesen wollte, oder umgekehrt, würde nichts verstehen. Ganz ähnlich steht es mit dem Wort »Krieg«: Außer der Tatsache, daß in beiden Fällen Menschen gestorben sind, gibt es wenig Gemeinsames zwischen den Punischen Kriegen und dem Zweiten Weltkrieg. Und gegen die Mitte unseres Jahrhunderts hat sich ein Phänomen »Krieg« abgezeichnet, das hinsichtlich seiner territorialen Ausdehnung, seiner Ergebnisse, seiner Kontrollmöglich-keiten und seiner Auswirkungen auf die Menschen in anderen Teilen der Erde wenig mit den napoleonischen Kriegen gemein hat. Kurz gesagt, wenn in der Vergangenheit die zu rechtfertigende Gewaltreaktion auf einen Aggressor die Form des offenen Schießkrieges annehmen konnte, so kann es heute sein, daß der offene Schießkrieg eine Form von Gewalt ist, die nicht dazu dient, den Aggressor einzudämmen, sondern ihm sogar nützt.
In den letzten fünfundvierzig Jahren haben wir eine andere Form der gewaltsamen Eindämmung des vermeintlichen Aggressors erlebt (ich drücke mich so vorsichtig aus, weil ich denke, daß meine Argumentation sowohl für die USA wie für die UdSSR akzeptabel ist), nämlich den Kalten Krieg. So schrecklich, so böse, so voll von angedrohter und partiell auch ausgeübter Gewalt er war, ging er doch von der Einsicht aus, daß ein heißer Krieg keinerlei Vorteil für die »Guten« bringen würde. Der Kalte Krieg war das erste Beispiel dafür, wie die Welt sich bewußt machte, daß der Begriff und die Realität des Krieges sich verändert hatten und daß ein moderner Krieg nichts mehr mit jenen klassischen Konflikten zu tun hat, bei denen es am Ende auf der einen Seite Sieger und auf der anderen Besiegte gab (abgesehen von Grenzfällen wie den
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