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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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noch das Honorar für den Artikel einzustreichen. In jenem Moment kommt die Rettung nicht durch den Intellektuellen, sondern durch die Polizei oder den Gesetzgeber.
    Es gibt nur einen Fall, in dem der Intellektuelle eine ihm eigene Funktion im Hinblick auf die gerade ablaufenden Ereignisse hat: wenn etwas Schwerwiegendes geschieht und niemand es bemerkt. Nur in solchen Fällen kann sein Appell als ein Alarmruf nützen. Zwar würde dann jeder beliebige Rufer die intellektuelle Funktion ausüben, auch wenn er bloß der Klempner wäre, aber es kann sein, daß die öffentliche Bekanntheit einer Person dem Appell mehr Aufmerksamkeit verschafft (siehe Zolas berühmtes J’accuse). Das alles hat freilich nur Sinn, wenn noch niemand bemerkt hat, daß etwas schiefläuft. Sind sich jedoch alle des Problems bewußt, so tut der Intellektuelle besser daran, nicht unnützerweise (um Dinge zu sagen, die auch sein Hausmeister denkt) Zeitungs- und Magazinseiten zu füllen, die für Nachrichten und dringendere Debatten frei bleiben müssen. In welchen er sich dann so verhalten muß, wie es jeder verantwortliche Bürger in schwierigen Lagen tun sollte.
    1997
Geschichte von Angelo Orso
    Anruf einer Journalistin, die für einen Artikel über Kinderspielzeug recherchierte und mich fragte, woran ich mich erinnerte. Mir fiel sofort Angelo Orso ein. Auf die Frage, welches Ende es mit ihm genommen habe, antwortete ich, daran könne ich mich nicht erinnern, und in der Tat hatte ich die Geschichte in jenem Moment nicht mehr ganz im Kopf. Als dann der Artikel erschienen war, rief mich meine Schwester ganz entrüstet an und fragte, ob das Voranschreiten der Jahre mir mein Gedächtnis getrübt habe. Sei es möglich, daß ich mich nicht mehr an die Beisetzung von Angelo Orso erinnern könne? Ja, stimmt, hätte ich müssen. Und langsam ist mir dann alles wieder eingefallen.
    Angelo Orso war ein klassischer Teddybär, plüschig und gelbbraun, vielleicht eines der ersten Spielzeuge, das wir geschenkt bekommen hatten. Aber solange wir noch sehr klein waren und er nagelneu, hatte er uns nur vage interessiert. Mit dem Älterwerden hatte Angelo Orso jedoch eine gerupfte Weisheit und hinkende Autorität erworben, und er erwarb immer mehr davon, als er nach und nach, wie ein alter Haudegen in vielen Schlachten, erst ein Auge und dann einen Arm verlor (da er entweder stand oder saß und niemand es gewagt hätte, ihn auf den Bauch zu legen, besaß er Arme und Beine wie ein richtiger Mensch, nicht bloß metaphorisch).
    Allmählich war er dann zum König unserer Spielsachen geworden. Auch wenn in einem umgedrehten Hocker, der als gepanzerter Truppentransporter fungierte, meine Spielsoldaten in See stachen, um den Ozean des Flurs oder das
    Meer des Kämmerchens zu überqueren, saß er ohne Rücksicht auf alle Proportionen mit an Bord, Gulliver zwischen ihm hörigen und ergebenen Liliputanern, die inzwischen noch invalider waren als er, da einige den Kopf oder eine Extremität verloren hatten, so daß aus ihren brüchigen und inzwischen farblosen Preßstoff-Leibern kleine Haken aus Eisendraht ragten.
    Angelo Orso (unisex) war natürlich auch Herrin der Puppen. Er herrschte über das ganze häusliche Spielzeug, einschließlich der hölzernen Eisenbahn und der Bauklötze. Mit der Zeit - und mitgenommen von seinen tausend Pflichten - hatte Angelo Orso das zweite Auge, den zweiten Arm und ein Bein verloren. Auch weil ihn ein roher Cousin in Kämpfe zwischen Cowboys und Indianern verwickelte und oft an den Bettpfosten band, um ihn unsäglichen Auspeitschungen zu unterziehen, die wir (und er, Angelo) hinnahmen, ohne darin eine Minderung seiner Königswürde zu sehen, denn ein Spielzeug muß, selbst wenn es Autokrat ist, vielerlei schwierige Rollen erfüllen.
    So vergingen die Jahre, und aus dem verstümmelten Torso des Sohlengängers kamen allmählich Strohbüschel heraus. Bei unseren Eltern hatte sich das Gerücht verbreitet, der kranke Körper beginne Insekten zu nähren, vielleicht Bakterienkulturen, und wir wurden liebevoll dazu angeregt, diesem armen Überrest eine Bestattung angedeihen zu lassen. Es tat nachgerade weh, den armen Bären zu sehen, der sich in keiner Stellung mehr aufrecht halten konnte, ein hilfloses Opfer jener langsamen Ausweidung und jenes unschicklichen Austretens innerer Organe, die seine einstige Würde kompromittierten.
    So bildeten wir eines Tages, früh am Morgen, als der Vater die Zentralheizung anzündete, die von der Küche aus alle

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