Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
und heute würden sie beim Militär wegen hoffnungsloser Disziplinlosigkeit ausgemustert. Damit will ich nicht sagen, daß wir uns über nichts Sorgen zu machen brauchen und daß wir eine schöne gesunde Menschheit haben werden, die gewohnt ist, Picknick auf der Wiese von Tschernobyl zu machen; allenfalls hat uns die Schrift befähigt, schneller zu begreifen, wann wir anhalten müssen, und wer nicht anhalten kann, ist ein Analphabet, auch wenn er sich auf vier Rädern bewegt.
Ein Unbehagen gegenüber neuen Formen von Gedächtnisspeicherung hat sich zu allen Zeiten gemeldet. Angesichts der gedruckten Bücher - gedruckt auf dünnem Papier, das befürchten ließ, es werde nicht länger als fünf-bis sechshundert Jahre halten, zumal wenn man bedachte, daß diese Dinger nun durch alle Hände gehen konnten, wie Luthers Bibel - gaben die ersten Käufer ein Vermögen aus, um die Anfangsbuchstaben der Kapitel von Hand malen zu lassen, damit es so aussah, als besäßen sie echte Handschriften auf Pergament. Heute sind diese illustrierten Inkunabeln unbezahlbar, aber die Wahrheit ist, daß gedruckte Bücher es nicht mehr nötig hatten, mit Miniaturmalerei versehen zu werden. Was haben wir also gewonnen? Was hat die Menschheit gewonnen durch die Erfindung der Schrift, des Buchdrucks, der elektronischen Gedächtnisse?
Der Verleger Valentino Bompiani hat einmal das Motto geprägt: »Ein Mensch, der liest, taugt soviel wie zwei.« Aus dem Munde eines Verlegers könnte das bloß wie ein guter Werbespruch klingen, aber ich denke, es sollte bedeuten, daß die Schrift (allgemein die Sprache) das Leben verlängert. Seit den Tagen, da unsere Spezies begann, ihre ersten bedeutungstragenden Laute auszustoßen, hatten die Familien und Stämme einen Bedarf an Alten. Vorher waren die Alten vielleicht noch unnütz gewesen und wurden weggeworfen, wenn sie nicht mehr jagen konnten. Aber mit dem Aufkommen der Sprache wurden sie zum kollektiven Gedächtnis der Spezies: Sie saßen in der Höhle am Feuer und erzählten, was vor der Geburt der Jungen geschehen war (oder was als geschehen berichtet wurde -das ist die Funktion der Mythen). Bevor man dieses gesellschaftliche Gedächtnis zu kultivieren begann, kam der Mensch ohne Erfahrung zur Welt, lebte nicht lange genug, um sich eine zu erwerben, und starb. Nach jenem einschneidenden Datum konnte ein Zwanzigjähriger so erfahren sein, als hätte er fünftausend Jahre gelebt. Die Geschehnisse vor seiner Geburt und das, was die Alten gelernt hatten, wurden zu einem Bestandteil seines Gedächtnisses.
Heute sind die Bücher unsere Alten. Wir machen es uns nicht bewußt, aber unser Reichtum verglichen mit dem des Analphabeten (oder des Lesekundigen, der nicht liest) ist, daß er bloß sein eigenes Leben lebt und leben wird und wir viele gelebt haben. Wir erinnern uns nicht nur an unsere eigenen Kinderspiele, sondern auch an diejenigen von Proust, wir haben gezittert wegen unserer Liebe, aber auch wegen der von Pyramus und Thisbe, wir haben etwas von der Weisheit Solons assimiliert, wir haben in gewissen windigen Nächten auf Sankt Helena mitgebibbert, und wir wiederholen zusammen mit den Märchen, die unsere Großmütter uns erzählt haben, auch diejenigen, die Scheherazade erzählt hat.
Auf manche mag dies alles so wirken, als seien wir, kaum geboren, schon unerträglich alt. Noch hinfälliger ist jedoch der Analphabet (der echte oder der funktionale), der seit seiner Kindheit an Arteriosklerose leidet und sich nicht erinnern kann (weil er’s nie gewußt hat), was an den Iden des März geschehen ist. Natürlich könnten wir auch Erlogenes im Gedächtnis speichern, aber lesen hilft auch zu unterscheiden. Der Analphabet, der nichts vom begangenen Unrecht der anderen weiß, kennt auch die eigenen Rechte nicht.
Das Buch ist eine Lebensversicherung, ein kleiner Vorschuß auf Unsterblichkeit. Leider nach hinten gerichtet anstatt nach vorn. Aber man kann nicht alles haben.
1991
Lob der Klassiker
Es heißt, in dieser Zeit der Krise des Buches verkaufen sich die Klassiker gut. Und nicht nur die im billigen Taschenbuch, sondern auch die im Schuber. Und nicht nur die der ersten Garnitur wie Platon, sondern auch die der zweiten wie Cicero; und da sowohl Materialisten wie Epikur als auch Pantheisten wie Plotin gelesen werden, ist hier weder die Wiedergeburt der Rechten noch der Vormarsch der Linken im Spiel. Sagen wir, die Verleger haben in richtigem Gespür für die Publikumsstimmung erkannt, daß in einer
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