Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
Zeit des Zerfalls und Umbruchs aller Werte die Leser nach etwas Gesichertem suchen. Warum geben die Klassiker Sicherheit? Weil ein Klassiker ein Autor ist, der besonders in Zeiten, als man noch mit der Hand abschrieb, viele dazu gebracht hat, ihn abzuschreiben, und dem es über die Jahrhunderte gelungen ist, die Trägheit der Zeit und die Sirenen des Vergessens zu besiegen. Gewiß haben sich auch Autoren gerettet, die ihr Pergament nicht wert waren, während andere, vielleicht allergrößte, zu ewigem Vergessen verdammt worden sind. Aber aufs Ganze gesehen hat die Gemeinschaft der Menschen mit gutem Sinn und Verstand reagiert, und es besteht große Wahrscheinlichkeit, daß ein Autor, der zum Klassiker geworden ist, uns noch etwas Gutes zu sagen hat.
Ein zweiter Grund ist, daß wir in Krisenzeiten Gefahr laufen, nicht mehr zu wissen, wer wir sind. Ein Klassiker sagt uns aber nicht nur, wie man in einer fernen Zeit dachte, sondern läßt uns auch entdecken, daß und warum wir heute noch oft ganz ähnlich denken. Einen Klassiker zu lesen ist so, als psychoanalysierte man unsere gegenwärtige Kultur, man findet Spuren, Erinnerungen, Grundmuster, Urszenen ... Sieh da, ruft man aus, jetzt verstehe ich, warum ich so bin - oder warum mich jemand partout so haben will: Die Sache hat genau mit dem angefangen, was ich gerade lese! Und so entdeckt man auf einmal, daß wir im Grunde noch immer Aristoteliker oder Platoniker oder Augustinianer sind, nicht nur in der Art, wie wir unsere Erfahrung organisieren, sondern auch und sogar in der Art, wie wir manchmal dabei in die Irre gehen.
Die Lektüre der Klassiker ist eine Reise zu den Wurzeln. Oft sucht man die Wurzeln nicht aus Sehnsucht nach etwas, das man gekannt hat, sondern in dem vagen Gefühl, daß man aus einem unbekannten Stamm hervorgegangen sein könnte. Der gebürtige Amerikaner, der unversehens das Bedürfnis nach einer Rückkehr (obwohl er noch niemals dort war) in das Land seiner Großeltern verspürt, macht eine Reise, zu der ihn eine virtuelle Sehnsucht treibt. Jeder Leser, der die Klassiker entdeckt, ist ein seit vielen Generationen naturalisierter Amerikaner, der das Bedürfnis verspürt, etwas über seine Vorfahren zu erkunden, um ihre Gegenwart in seinen Gedanken, Gesten und Gesichtszügen wiederzufinden.
Die andere schöne Überraschung, die uns die Klassiker oft bereiten, ist die Erkenntnis, daß sie moderner waren als wir. Ich bin immer ganz bestürzt, wenn gewisse Denker in Übersee, die kulturell entwurzelt sind und deren Bibliographien nur Bücher aus dem letzten Jahrzehnt verzeichnen, eine neue Idee aufs Tapet bringen, sie womöglich schlecht entwickeln und gar nicht wissen, daß eine ähnliche Idee schon vor tausend Jahren viel besser entwickelt worden ist (oder sich schon vor tausend Jahren als unergiebig erwiesen hat).
Dieser Tage erhielt ich einen Band mit ausgewählten Schriften von Augustinus (II maestro e laparola, Rusconi, zweisprachig, herausgegeben von Maria Bettetini). Er enthält vier kleine Traktate, von denen ich den Dialog De ma-gistro zu lesen empfehle. Man könnte sagen, er erinnere an den besten Wittgenstein, wenn Wittgenstein nicht an den besten Augustinus erinnern würde. Aus einem simplen Spaziergang mit Adeodatus, seinem natürlichen Sohn (jawohl, bevor Augustinus Kirchenvater und Heiliger wurde, hatte er einiges angestellt), zieht der Vater-Lehrer eine Reihe schöner Erkenntnisse über das, was sprechen heißt. Ich sage »aus einem Spaziergang« und nicht »während eines Spaziergangs«, weil es gerade die körperliche Erfahrung des Gehens ist, die Augustinus manchmal dazu bringt, besser erklären zu können, wie wir die Wörter durch Gesten, Bewegungen, Stehenbleiben und Beschleunigungen des Ganges gebrauchen ... Wenn ein Klassiker uns so nahe ist, bedauern wir, ihn nicht schon früher gelesen zu haben.
Neulich kam ein Philosophiestudent zu mir und fragte mich, was er lesen solle, um gut argumentieren zu lernen. Ich riet ihm zu Lockes Versuch über den menschlichen Verstand. Er fragte, warum gerade dieses Buch, und ich antwortete, wenn ich in anderer Stimmung gewesen wäre, hätte ich ihm statt dessen auch sehr gut einen Dialog von Platon oder Descartes’ Discours de la méthode nennen können. Aber da man schließlich irgendwo anfangen muß, werde er mit Locke das Beispiel eines Mannes haben, der gut zu argumentieren verstand, während er liebenswürdig mit Freunden plauderte, und ohne daß er es nötig hatte, schwierige
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