Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
zweiundvierzig Millionen Menschen zwölf bis vierundzwanzig Jahren alt sein. Die meisten davon werden meninhos da rua sein: Straßenkinder, Bewohner der Wellblechbarackenstädte. In Afrika wird die Stadtbevölkerung im nächsten Jahrhundert zu 80 Prozent aus Jugendlichen bestehen; andererseits werden 23 Prozent aller Jugendlichen in einer asiatischen Megalopolis und 21 Prozent in einer südamerikanischen Megalopolis leben. Ich stelle mir vor, es werden Städte mit mindestens 60 Millionen Einwohnern sein; und durch die Vergiftung der Umwelt wird sich die Zahl der Alten noch weiter vermindern.
Kein Grund zur Aufregung: So wie die Etrusker verschwunden sind, werden auch die Italiener verschwinden. Seit einiger Zeit wird ja schon gesagt, daß wir uns auf ein farbiges Europa einrichten müssen, und das wahre Problem ist, ob diese Nicht-Europäer dann noch an die Sorbonne und nach Oxford gehen können (vergessen wir nicht, daß auch Augustinus ein Afrikaner war). Wenn jedoch auch Siena - nur so als Beispiel - ein Mega-Slum würde, bewohnt von chinesischen Jugendlichen, die auf kongolesische Jugendliche schießen, dann wäre das schade (für Siena, für die Chinesen und für die Kongolesen).
Ich gehöre zu denen, die der Meinung sind, daß es, um die Bevölkerungsexplosion einzudämmen, einer klugen Politik der Erziehung zur Geburtenkontrolle bedarf. Das Vertrauen, das viele in die Vorsehung haben, kann mich nicht beruhigen. Und da die Schönheit dieses Planeten auch aus den kulturellen und ethnischen Unterschieden besteht, könnte Geburtenkontrolle heißen, die Geburten auch positiv zu kontrollieren; damit will ich sagen, daß es zwischen der Vorstellung, die Italiener sollten sich über die Welt verstreuen und sie erobern, und der Meinung, es wäre nicht weiter schlimm, wenn sie verschwänden, viel-leicht einen Mittelweg gäbe: Vielleicht würde es sich lohnen, einige Italiener zu behalten (wenn auch gebührend vermischt mit Zugewanderten). Aber nötig wäre in jedem Fall eine wohldurchdachte Erziehung zu vernünftiger und verantwortlicher Fortpflanzung.
Freilich können auch solche Lösungen zu kuriosen, um nicht zu sagen dramatischen Konsequenzen führen. Letzte Woche machte mich ein Freund darauf aufmerksam, was geschehen könnte (ja sicher geschehen würde), wenn man überall in der Welt die von den Chinesen beschlossene Notlösung übernähme: Jedes Paar darf nur ein Kind haben. So gesagt, klingt es ganz vernünftig: pro Familie nur ein neuer Italiener, nur ein neuer Kongolese, nur ein neuer Inder usw. Die gegenwärtigen Proportionen (nach denen die Albaner geringer an Zahl sind als die Japaner) blieben mehr oder minder erhalten, und vielleicht bliebe auch genügend Raum und Nahrung für alle. Aber Vorsicht. Nach zwei bis drei Generationen würden die Wörter »Bruder«, »Schwester«, »Onkel«, »Tante«, »Vetter« und »Cousine« ihren Sinn verlieren. Um die Vettern und Cousinen wäre es nicht weiter schade, und schweigen wir über die Onkel und Tanten, aber ist uns klar, was es heißt, wenn für einen Jungen in der Mitte des nächsten Jahrtausends der Begriff »Brüderlichkeit« jeden Sinn verloren hat? Sicher, er wird durch irgendwas anderes ersetzt werden, vielleicht wird man zur Erklärung des Evangeliums sagen, wir sollten einander lieben wie Wohnungsnachbarn oder wie Schulkameraden oder wie Fahrgäste im selben Bus, aber wird es dasselbe sein?
Andererseits, welchen Sinn wird Brüderlichkeit für jemanden haben, der fünfzehn Brüder hat und sich über jeden Bissen mit ihnen streitet, vielleicht ohne sie überhaupt zu kennen, da ihn die Eltern ausgesetzt haben in einer Stadt, deren Ressourcen nur für ein Zehntel ihrer Einwoh-ner reichen? In beiden Fällen also, ob durch Mangel oder durch Überfluß, werden in einer übervölkerten Welt die Begriffe »Stamm«, »Sippe«, »Familie« jeden Sinn verlieren.
Es sei denn, daß die Vorsehung oder die Natur eingreift, um durch rabiate Pestepidemien und/oder einen Dauerkrieg, der großzügige Massaker garantiert, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Was zumindest im Augenblick die offenkundigste und nächstliegende Perspektive zu sein scheint.
1995
Chopin contra Derrick? Versuchen wir das Unmögliche
Von Anfang an haben wir für diese Kolumne festgelegt, daß sie nicht an die Aktualität gebunden sein darf. Daher fühle ich mich ermächtigt zu berichten, was mir an jenem fernen Abend des 13. Juni 1995 durch den Kopf ging, als ich die Ergebnisse des
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