Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
viel Leiden einschließt? War ich im Begriff, alle meine moralischen Prinzipien wegen Chopin aufzugeben?
So kam es, daß ich mich fragte, ob es in der steigenden Flut von Vulgarität nicht ab und zu eine »politische« Tat sein könnte, auch die Rechte der Schönheit zu verteidigen. Im Wissen, daß sie auf lange Sicht ohnehin siegen wird. Vielleicht müssen wir auch dafür kämpfen, die Rechte einer umfassenden Erziehung zu verteidigen, welche die alten Griechen Paideia nannten. Vielleicht müssen wir den anderen inpositivo eine Welt vorschlagen, in der jeder das Recht auf seine eigene Privatheit hat, aber auf eine durch Erziehung geformte, geadelte, noble Privatheit. Und vielleicht müssen wir ihnen zeigen, daß es diese Welt wirklich gibt und daß sie auch auf dem Fernsehbildschirm leben kann. Es wird sicher ein langer und schwieriger Kampf sein, der in den Schulen, in den Stadtvierteln, auf den Straßen und Plätzen durchgekämpft werden muß, mit der Härte - um es mal so zu sagen - der Marxisten-Leninisten vergangener Zeiten (oder derer, die sich heute für Derrick schlagen). Chopin contra Derrick? Lohnt es sich am Ende, noch einmal das Unmögliche zu verlangen?
1995
Wie man sich heiter auf den Tod vorbereiten kann
Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit etwas Originelles sage, aber eines der größten Probleme des menschlichen Daseins ist, wie man sich auf den Tod vorbereitet. Ein schwieriges Problem für die Nichtgläubigen (wie begegne ich dem absoluten Nichts, das uns nach dem Tod erwartet?), aber den Statistiken zufolge treibt es auch viele Gläubige um, die überzeugt sind, daß es ein Leben nach dem Tod gibt, und die gleichwohl das Leben vor dem Tod so angenehm finden, daß sie es nur ungern verlassen; weshalb sie sich zwar danach sehnen, in den Chor der Engel aufgenommen zu werden, aber erst möglichst spät.
Ich denke, es liegt auf der Hand, daß ich hier das Problem anspreche, was es bedeutet, »zum Tode« zu leben oder auch nur anzuerkennen, daß alle Menschen sterblich sind. Die Antwort scheint leicht zu sein, solange sie Sokrates betrifft, aber sie wird schwierig, sobald wir selbst betroffen sind. Und am schwierigsten wird der Moment sein, in dem wir uns klarmachen, daß wir für einen Augenblick noch da sind und einen Augenblick später nicht mehr dasein werden.
Ein nachdenklicher Schüler (ein gewisser Kriton) fragte mich kürzlich: »Meister, wie kann man sich gut auf den Tod vorbereiten?« Ich antwortete ihm, daß die einzige Art und Weise, gefaßt dem Tod entgegenzugehen, darin bestehe, sich zu überzeugen, daß alle anderen Trottel und Blödmänner sind.
Auf sein Erstaunen erklärte ich ihm, was ich meine.
»Schau«, sagte ich, »wie kannst du dem Tod entgegengehen, selbst als Gläubiger, wenn du denkst, daß im Moment deines Todes höchst begehrenswerte junge Leute beiderlei Geschlechts gerade in Diskotheken tanzen und sich über die Maßen amüsieren, daß erleuchtete Wissenschaftler die letzten Geheimnisse des Kosmos ergründen, daß unbestechliche Politiker im Begriff sind, eine bessere Gesellschaft zu errichten, daß Zeitungen und Fernsehstationen bestrebt sind, nur relevante Nachrichten zu bringen, daß verantwortliche Unternehmer sorgsam darauf achten, mit ihren Produkten nicht die Umwelt zu verschmutzen, und es sich angelegen sein lassen, eine Natur wiederherzustellen, die gemacht ist aus klaren Bächen, bewaldeten Hängen, reinen und heiteren Himmeln im Schutze vorsorglichen Ozons und weichen Wolken, die wieder sauberen Regen spenden? Der Gedanke, daß du davonmußt, während all diese herrlichen Dinge geschehen, wäre doch unerträglich.
Versuche nun aber einmal zu denken, du hättest in dem Moment, in welchem du bemerkst, daß du dich anschickst, dieses Jammertal zu verlassen, die unerschütterliche Gewißheit, daß die Welt (fünf Milliarden Menschen) voller Trottel und Blödmänner ist, daß es Trottel sind, die in der Disko tanzen, Blödmänner die Wissenschaftler, die glauben, die Rätsel des Kosmos gelöst zu haben, Trottel und Blödmänner die Politiker, die das Allheilmittel für unsere sämtlichen Übel verkünden, Trottel und Blödmänner die Schreiberlinge, die Seiten um Seiten mit fadem Allerweltsgeschwätz füllen, Trottel und Blödmänner die selbstmörderischen Produzenten, die den Planeten zerstören. Wärst du in jenem Moment nicht glücklich, erleichtert und zufrieden, diese Welt voller Trottel und Blödmänner zu verlassen?«
Darauf fragte mich Kriton:
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